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Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 7. Stuttgart, 1868.

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Willkür der Herren keine Hoffnung auf Hülfe! Da versuchen denn
die alten Reste der freien Bauerngeschlechter, sich selbst zu helfen. Sie
greifen zu den Waffen. Die Bauernkriege entstehen, und wälzen sich
wie eine große elementare Erscheinung über ganz Europa hin. Ihr Er-
gebniß aber war vorauszusehen. Die Bauernkriege waren keine Erhebung
des Volkes, sondern nur ein letzter verzweifelter Kampf der früher
herrschenden Klasse der bäuerlichen Geschlechterordnung, der Freibauern
und der Zinsbauern, gegen die neue herrschende Klasse des Adels. Daß
die Städter sich davon frei hielten, ist bekannt; aber auch die Leibeigenen
erschienen nicht. Dieser Kampf ist daher hoffnungslos. Der "Bauer"
unterliegt. Und jetzt hat das Sonderinteresse der Grundherren keine
Gränze mehr. Die große Frage, ob die Geschlechterordnung durch
ihre eigenen Elemente sich selber helfen
und ihre Entwicklung
zu einer freieren Gestaltung auf eigener Grundlage ausführen könne,
ist definitiv gelöst; sie ist durch den Gang der Geschichte dazu für
unfähig erklärt. Wenn jetzt nicht ein anderer ganz neuer Faktor
in die Bewegung hineintritt, so ist der Fortschritt der Völker für eine
bessere Zukunft unmöglich.

Dieser Faktor nun, der einzige, der über allen Gewalten und
Interessen der Geschlechterordnung erhaben ist, ist der Staat, und
zwar in der Gestalt, in der er sich als selbständiger über jene Ord-
nungen und Bewegungen erhebt als das Königthum mit seiner Ver-
waltung.

Mit dem Königthum beginnt daher der Proceß einer neuen Rechts-
bildung, die allenthalben zu ihrem gleichartigen Inhalt den Kampf
gegen jene Unfreiheit hat, wie sie die Geschlechterordnung in der an-
gegebenen Weise aus sich erzeugt. Diese Befreiung der niederen Ge-
schlechterklasse ist die größte That des Königthums; auf ihr beruht seine
wahre Macht, denn hier handelt es am meisten im Geiste der neuen
gesellschaftlichen Entwicklung, und nie und nirgends hat dasselbe das
Bewußtsein von dieser ihm eingeborenen Aufgabe ganz verloren.

Allein wie nun die Geschlechterunfreiheit weder eine plötzlich ent-
standene, noch eine in sich einfach gestaltete ist, so konnte auch jener
Kampf des Königthums, der sie beseitigte, nicht mit einem einzigen
Akte beendet werden. Um so weniger, als das Königthum selbst keines-
wegs ein reines war, sondern vielmehr auf allen Punkten mit der
Geschlechterherrschaft zusammenhing. Es hat daher auch nur wenig
unmittelbar eingegriffen; es ist vielmehr die Gesammtheit von höheren
ethischen, juristischen und wirthschaftlichen Elementen des Volkslebens,
die wir, um das Königthum krystallisirt, eben den Staat im engeren
Sinne als ein selbständiges persönliches Leben nennen, und die hier

Willkür der Herren keine Hoffnung auf Hülfe! Da verſuchen denn
die alten Reſte der freien Bauerngeſchlechter, ſich ſelbſt zu helfen. Sie
greifen zu den Waffen. Die Bauernkriege entſtehen, und wälzen ſich
wie eine große elementare Erſcheinung über ganz Europa hin. Ihr Er-
gebniß aber war vorauszuſehen. Die Bauernkriege waren keine Erhebung
des Volkes, ſondern nur ein letzter verzweifelter Kampf der früher
herrſchenden Klaſſe der bäuerlichen Geſchlechterordnung, der Freibauern
und der Zinsbauern, gegen die neue herrſchende Klaſſe des Adels. Daß
die Städter ſich davon frei hielten, iſt bekannt; aber auch die Leibeigenen
erſchienen nicht. Dieſer Kampf iſt daher hoffnungslos. Der „Bauer“
unterliegt. Und jetzt hat das Sonderintereſſe der Grundherren keine
Gränze mehr. Die große Frage, ob die Geſchlechterordnung durch
ihre eigenen Elemente ſich ſelber helfen
und ihre Entwicklung
zu einer freieren Geſtaltung auf eigener Grundlage ausführen könne,
iſt definitiv gelöst; ſie iſt durch den Gang der Geſchichte dazu für
unfähig erklärt. Wenn jetzt nicht ein anderer ganz neuer Faktor
in die Bewegung hineintritt, ſo iſt der Fortſchritt der Völker für eine
beſſere Zukunft unmöglich.

Dieſer Faktor nun, der einzige, der über allen Gewalten und
Intereſſen der Geſchlechterordnung erhaben iſt, iſt der Staat, und
zwar in der Geſtalt, in der er ſich als ſelbſtändiger über jene Ord-
nungen und Bewegungen erhebt als das Königthum mit ſeiner Ver-
waltung.

Mit dem Königthum beginnt daher der Proceß einer neuen Rechts-
bildung, die allenthalben zu ihrem gleichartigen Inhalt den Kampf
gegen jene Unfreiheit hat, wie ſie die Geſchlechterordnung in der an-
gegebenen Weiſe aus ſich erzeugt. Dieſe Befreiung der niederen Ge-
ſchlechterklaſſe iſt die größte That des Königthums; auf ihr beruht ſeine
wahre Macht, denn hier handelt es am meiſten im Geiſte der neuen
geſellſchaftlichen Entwicklung, und nie und nirgends hat daſſelbe das
Bewußtſein von dieſer ihm eingeborenen Aufgabe ganz verloren.

Allein wie nun die Geſchlechterunfreiheit weder eine plötzlich ent-
ſtandene, noch eine in ſich einfach geſtaltete iſt, ſo konnte auch jener
Kampf des Königthums, der ſie beſeitigte, nicht mit einem einzigen
Akte beendet werden. Um ſo weniger, als das Königthum ſelbſt keines-
wegs ein reines war, ſondern vielmehr auf allen Punkten mit der
Geſchlechterherrſchaft zuſammenhing. Es hat daher auch nur wenig
unmittelbar eingegriffen; es iſt vielmehr die Geſammtheit von höheren
ethiſchen, juriſtiſchen und wirthſchaftlichen Elementen des Volkslebens,
die wir, um das Königthum kryſtalliſirt, eben den Staat im engeren
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[103/0121] Willkür der Herren keine Hoffnung auf Hülfe! Da verſuchen denn die alten Reſte der freien Bauerngeſchlechter, ſich ſelbſt zu helfen. Sie greifen zu den Waffen. Die Bauernkriege entſtehen, und wälzen ſich wie eine große elementare Erſcheinung über ganz Europa hin. Ihr Er- gebniß aber war vorauszuſehen. Die Bauernkriege waren keine Erhebung des Volkes, ſondern nur ein letzter verzweifelter Kampf der früher herrſchenden Klaſſe der bäuerlichen Geſchlechterordnung, der Freibauern und der Zinsbauern, gegen die neue herrſchende Klaſſe des Adels. Daß die Städter ſich davon frei hielten, iſt bekannt; aber auch die Leibeigenen erſchienen nicht. Dieſer Kampf iſt daher hoffnungslos. Der „Bauer“ unterliegt. Und jetzt hat das Sonderintereſſe der Grundherren keine Gränze mehr. Die große Frage, ob die Geſchlechterordnung durch ihre eigenen Elemente ſich ſelber helfen und ihre Entwicklung zu einer freieren Geſtaltung auf eigener Grundlage ausführen könne, iſt definitiv gelöst; ſie iſt durch den Gang der Geſchichte dazu für unfähig erklärt. Wenn jetzt nicht ein anderer ganz neuer Faktor in die Bewegung hineintritt, ſo iſt der Fortſchritt der Völker für eine beſſere Zukunft unmöglich. Dieſer Faktor nun, der einzige, der über allen Gewalten und Intereſſen der Geſchlechterordnung erhaben iſt, iſt der Staat, und zwar in der Geſtalt, in der er ſich als ſelbſtändiger über jene Ord- nungen und Bewegungen erhebt als das Königthum mit ſeiner Ver- waltung. Mit dem Königthum beginnt daher der Proceß einer neuen Rechts- bildung, die allenthalben zu ihrem gleichartigen Inhalt den Kampf gegen jene Unfreiheit hat, wie ſie die Geſchlechterordnung in der an- gegebenen Weiſe aus ſich erzeugt. Dieſe Befreiung der niederen Ge- ſchlechterklaſſe iſt die größte That des Königthums; auf ihr beruht ſeine wahre Macht, denn hier handelt es am meiſten im Geiſte der neuen geſellſchaftlichen Entwicklung, und nie und nirgends hat daſſelbe das Bewußtſein von dieſer ihm eingeborenen Aufgabe ganz verloren. Allein wie nun die Geſchlechterunfreiheit weder eine plötzlich ent- ſtandene, noch eine in ſich einfach geſtaltete iſt, ſo konnte auch jener Kampf des Königthums, der ſie beſeitigte, nicht mit einem einzigen Akte beendet werden. Um ſo weniger, als das Königthum ſelbſt keines- wegs ein reines war, ſondern vielmehr auf allen Punkten mit der Geſchlechterherrſchaft zuſammenhing. Es hat daher auch nur wenig unmittelbar eingegriffen; es iſt vielmehr die Geſammtheit von höheren ethiſchen, juriſtiſchen und wirthſchaftlichen Elementen des Volkslebens, die wir, um das Königthum kryſtalliſirt, eben den Staat im engeren Sinne als ein ſelbſtändiges perſönliches Leben nennen, und die hier

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Zitationshilfe: Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 7. Stuttgart, 1868, S. 103. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stein_verwaltungslehre07_1868/121>, abgerufen am 28.04.2024.