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Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 7. Stuttgart, 1868.

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wieder bezweifelt oder bestritten worden; es steht fest als
eine der großen Forderungen der neuen Ideen des Staats, jedoch natür-
lich ohne daß man sich über die gesellschaftliche Grundlage Rechenschaft
ablegt. Denn das Entstehen dieses Princips ist in der That zugleich
der Beginn des großen Kampfes der staatsbürgerlichen Gesellschaft gegen
das Geschlechter- und Ständerecht, und natürlich wendet sich dieser Kampf
zunächst dem härtesten Theil des letzteren, der Lage des ursprünglich
freien Bauern zu, in dem dunklen Bewußtsein, daß es keinen wahrhaft
definitiven gesellschaftlichen Fortschritt gebe, so lange der Bauernbesitz
und die Person der unteren Klassen noch in der Geschlechterabhängig-
keit bleibt. Die große Frage nach der Grundentlastung wird
daher das eigentliche Schlachtfeld zwischen der neuen und der alten
Rechtsbildung; das was hier geschieht, überragt so sehr alle andern
Gebiete der Entwährung, daß von denselben neben jener so gut als
gar keine Rede ist; in ihr zeichnet sich daher auch der ganze Entwick-
lungsgang des Sieges der staatsbürgerlichen Gesellschaft deutlicher ab,
als irgendwo sonst, und das Bewußtsein wird allgemein, daß die neue
Ordnung des öffentlichen Rechts trotz aller Verfassung und aller Frei-
heitsprincipien nicht entschieden ist, so lange die Grundentlastung nicht
durchgeführt ist. Diese Geschichte der Grundentlastung ist daher das
Hauptgebiet der Entwährungsgeschichte; an sie schließen sich die Gemein-
heitstheilung und Ablösung als sehr untergeordnete Momente an, und
die Enteignung, die bereits den vollendeten Sieg der staatsbürgerlichen
Gesellschaft voraussetzt, kommt eben deßhalb erst mit dem neunzehn-
ten Jahrhundert zu einer selbständigen Bedeutung, ohne daß man doch
recht ihren Zusammenhang mit dem Entlastungswesen erkannt hätte.
Das sind die allgemeinsten Grundzüge der Entwicklung dieses Theiles
der europäischen Rechtsbildung. Es ist kaum nöthig, zu wiederholen,
daß sie ohne den Begriff der drei Gesellschaftsformen gar nicht verstanden
wird, daß sie aber auch für das Wesen und Princip derselben vielleicht
den bedeutsamsten praktischen Beweis bildet, den die Wissenschaft kennt.

Demgemäß wird es nun wohl auch klar sein, daß der Gang und die
Stadien der Bildung des positiven Entwährungsrechts wieder in jedem
einzelnen Lande in höchst einfacher und durchsichtiger Weise mit dem Gange
jener Entwicklung der staatsbürgerlichen Gesellschaft zusammen hängen.
Die folgende Darstellung hat dieß für jedes einzelne Gebiet speciell
nachzuweisen; hier möge nur das allgemeine Bild der Sache Platz finden.

In Frankreich bricht sich das Princip der staatsbürgerlichen Gesell-
schaft, von keiner Regierung verstanden und vertreten, die gewaltsame
Bahn in der Revolution, und der ganze Proceß der Entlastung drängt
sich daher in die Jahre von 1789 bis 1795 zusammen. Das Princip

wieder bezweifelt oder beſtritten worden; es ſteht feſt als
eine der großen Forderungen der neuen Ideen des Staats, jedoch natür-
lich ohne daß man ſich über die geſellſchaftliche Grundlage Rechenſchaft
ablegt. Denn das Entſtehen dieſes Princips iſt in der That zugleich
der Beginn des großen Kampfes der ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaft gegen
das Geſchlechter- und Ständerecht, und natürlich wendet ſich dieſer Kampf
zunächſt dem härteſten Theil des letzteren, der Lage des urſprünglich
freien Bauern zu, in dem dunklen Bewußtſein, daß es keinen wahrhaft
definitiven geſellſchaftlichen Fortſchritt gebe, ſo lange der Bauernbeſitz
und die Perſon der unteren Klaſſen noch in der Geſchlechterabhängig-
keit bleibt. Die große Frage nach der Grundentlaſtung wird
daher das eigentliche Schlachtfeld zwiſchen der neuen und der alten
Rechtsbildung; das was hier geſchieht, überragt ſo ſehr alle andern
Gebiete der Entwährung, daß von denſelben neben jener ſo gut als
gar keine Rede iſt; in ihr zeichnet ſich daher auch der ganze Entwick-
lungsgang des Sieges der ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaft deutlicher ab,
als irgendwo ſonſt, und das Bewußtſein wird allgemein, daß die neue
Ordnung des öffentlichen Rechts trotz aller Verfaſſung und aller Frei-
heitsprincipien nicht entſchieden iſt, ſo lange die Grundentlaſtung nicht
durchgeführt iſt. Dieſe Geſchichte der Grundentlaſtung iſt daher das
Hauptgebiet der Entwährungsgeſchichte; an ſie ſchließen ſich die Gemein-
heitstheilung und Ablöſung als ſehr untergeordnete Momente an, und
die Enteignung, die bereits den vollendeten Sieg der ſtaatsbürgerlichen
Geſellſchaft vorausſetzt, kommt eben deßhalb erſt mit dem neunzehn-
ten Jahrhundert zu einer ſelbſtändigen Bedeutung, ohne daß man doch
recht ihren Zuſammenhang mit dem Entlaſtungsweſen erkannt hätte.
Das ſind die allgemeinſten Grundzüge der Entwicklung dieſes Theiles
der europäiſchen Rechtsbildung. Es iſt kaum nöthig, zu wiederholen,
daß ſie ohne den Begriff der drei Geſellſchaftsformen gar nicht verſtanden
wird, daß ſie aber auch für das Weſen und Princip derſelben vielleicht
den bedeutſamſten praktiſchen Beweis bildet, den die Wiſſenſchaft kennt.

Demgemäß wird es nun wohl auch klar ſein, daß der Gang und die
Stadien der Bildung des poſitiven Entwährungsrechts wieder in jedem
einzelnen Lande in höchſt einfacher und durchſichtiger Weiſe mit dem Gange
jener Entwicklung der ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaft zuſammen hängen.
Die folgende Darſtellung hat dieß für jedes einzelne Gebiet ſpeciell
nachzuweiſen; hier möge nur das allgemeine Bild der Sache Platz finden.

In Frankreich bricht ſich das Princip der ſtaatsbürgerlichen Geſell-
ſchaft, von keiner Regierung verſtanden und vertreten, die gewaltſame
Bahn in der Revolution, und der ganze Proceß der Entlaſtung drängt
ſich daher in die Jahre von 1789 bis 1795 zuſammen. Das Princip

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[90/0108] wieder bezweifelt oder beſtritten worden; es ſteht feſt als eine der großen Forderungen der neuen Ideen des Staats, jedoch natür- lich ohne daß man ſich über die geſellſchaftliche Grundlage Rechenſchaft ablegt. Denn das Entſtehen dieſes Princips iſt in der That zugleich der Beginn des großen Kampfes der ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaft gegen das Geſchlechter- und Ständerecht, und natürlich wendet ſich dieſer Kampf zunächſt dem härteſten Theil des letzteren, der Lage des urſprünglich freien Bauern zu, in dem dunklen Bewußtſein, daß es keinen wahrhaft definitiven geſellſchaftlichen Fortſchritt gebe, ſo lange der Bauernbeſitz und die Perſon der unteren Klaſſen noch in der Geſchlechterabhängig- keit bleibt. Die große Frage nach der Grundentlaſtung wird daher das eigentliche Schlachtfeld zwiſchen der neuen und der alten Rechtsbildung; das was hier geſchieht, überragt ſo ſehr alle andern Gebiete der Entwährung, daß von denſelben neben jener ſo gut als gar keine Rede iſt; in ihr zeichnet ſich daher auch der ganze Entwick- lungsgang des Sieges der ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaft deutlicher ab, als irgendwo ſonſt, und das Bewußtſein wird allgemein, daß die neue Ordnung des öffentlichen Rechts trotz aller Verfaſſung und aller Frei- heitsprincipien nicht entſchieden iſt, ſo lange die Grundentlaſtung nicht durchgeführt iſt. Dieſe Geſchichte der Grundentlaſtung iſt daher das Hauptgebiet der Entwährungsgeſchichte; an ſie ſchließen ſich die Gemein- heitstheilung und Ablöſung als ſehr untergeordnete Momente an, und die Enteignung, die bereits den vollendeten Sieg der ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaft vorausſetzt, kommt eben deßhalb erſt mit dem neunzehn- ten Jahrhundert zu einer ſelbſtändigen Bedeutung, ohne daß man doch recht ihren Zuſammenhang mit dem Entlaſtungsweſen erkannt hätte. Das ſind die allgemeinſten Grundzüge der Entwicklung dieſes Theiles der europäiſchen Rechtsbildung. Es iſt kaum nöthig, zu wiederholen, daß ſie ohne den Begriff der drei Geſellſchaftsformen gar nicht verſtanden wird, daß ſie aber auch für das Weſen und Princip derſelben vielleicht den bedeutſamſten praktiſchen Beweis bildet, den die Wiſſenſchaft kennt. Demgemäß wird es nun wohl auch klar ſein, daß der Gang und die Stadien der Bildung des poſitiven Entwährungsrechts wieder in jedem einzelnen Lande in höchſt einfacher und durchſichtiger Weiſe mit dem Gange jener Entwicklung der ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaft zuſammen hängen. Die folgende Darſtellung hat dieß für jedes einzelne Gebiet ſpeciell nachzuweiſen; hier möge nur das allgemeine Bild der Sache Platz finden. In Frankreich bricht ſich das Princip der ſtaatsbürgerlichen Geſell- ſchaft, von keiner Regierung verſtanden und vertreten, die gewaltſame Bahn in der Revolution, und der ganze Proceß der Entlaſtung drängt ſich daher in die Jahre von 1789 bis 1795 zuſammen. Das Princip

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Zitationshilfe: Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 7. Stuttgart, 1868, S. 90. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stein_verwaltungslehre07_1868/108>, abgerufen am 28.04.2024.