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Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 7. Stuttgart, 1868.

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gebung; und hier mag es wohl gestattet sein, einige Worte hinzuzu-
fügen, welche den Ueberblick erleichtern.

Zuerst mangelt allerdings auch der Gesetzgebung das Bewußtsein,
daß alle Formen der Entwährung zuletzt einem und demselben Princip
und der Geschichte der staatsbürgerlichen Gesellschaft gemeinsam ange-
hören. Daher finden wir denn auch hier dieselbe Erscheinung, daß die
Gesetzgebungen über Entlastung, Auftheilung und Enteignung ganz un-
abhängig und ganz ohne Beziehung auf einander entstanden sind und
als lauter selbständige Gesetze dastehen. Der materielle Grund dafür
lag wohl darin, daß allerdings das Entlastungs- und Auftheilungs-
wesen überhaupt nur einmal auftreten kann, während die Enteignung
als ein dauerndes Element des öffentlichen Rechts erscheint. Und da
nun der Proceß, der den Sieg der staatsbürgerlichen Gesellschaft bedeu-
tet, in sehr verschiedenen Abstufungen und Formen auftritt, so ist auch
eine formelle Gleichartigkeit der Entwährungsgesetzgebung weder zu er-
warten, noch auch vorhanden. Dennoch ist die Grundlage für alle
Staaten Europas dieselbe; und daher ist bei aller formellen Ungleichheit
in den Rechtssätzen eine so große Gleichheit, wie vielleicht in gar
keinem andern Theile des ganzen Verwaltungsrechts. Es ist deßhalb
sehr leicht, diese gemeinsame Grundlage zu bezeichnen, und auf derselben
die positive Gestalt der Entwährungs-Rechtsbildung zu charakterisiren.

So wie man zunächst anerkennt, daß dieselbe der Entwicklung der
staatsbürgerlichen Gesellschaft in ihrem Kampfe mit der Geschlechter- und
Ständeordnung angehört, so erklärt es sich, weßhalb das ganze römische
und canonische Recht von dem Entwährungsrecht auch nicht einmal
eine Vorstellung haben. Wenn hochbegabte Männer wie Aeneas Syl-
vius
(De ortu et auctoritate imperii c. 17) die Nothwendigkeit eines
solchen Rechts ahnen, so stehen sie eben damit schon hoch über ihrer
Zeit. Denn natürlich kann auch in der germanischen Welt unter der
Herrschaft der Geschlechter- und der Ständeordnung von dem Princip
oder Inhalt der Entwährung in keiner Richtung die Rede sein, um
so weniger, als das römische Recht keinen Anstoß dazu gab. Erst mit
dem 17. Jahrhundert, in dem das Princip der staatsbürgerlichen Ge-
sellschaft seine ersten Strahlen auf die Wissenschaft wirft, entsteht mit
der Staatswissenschaft zugleich die Frage, wie sich denn das Imperium
oder Dominium, die Obrigkeit oder das Königthum, nicht bloß zu der
Gesetzgebung im Allgemeinen, sondern speciell auch zum Privatrecht
verhalte. Und schon hier wird der Grundgedanke ausdrücklich und als
etwas ganz unbezweifeltes ausgesprochen, daß das wahre Bedürfniß
des Staats, die necessitas Imperii, das Recht auf Aufhebung auch
des Privateigenthums enthalte. Von da an ist dieß Princip nie

gebung; und hier mag es wohl geſtattet ſein, einige Worte hinzuzu-
fügen, welche den Ueberblick erleichtern.

Zuerſt mangelt allerdings auch der Geſetzgebung das Bewußtſein,
daß alle Formen der Entwährung zuletzt einem und demſelben Princip
und der Geſchichte der ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaft gemeinſam ange-
hören. Daher finden wir denn auch hier dieſelbe Erſcheinung, daß die
Geſetzgebungen über Entlaſtung, Auftheilung und Enteignung ganz un-
abhängig und ganz ohne Beziehung auf einander entſtanden ſind und
als lauter ſelbſtändige Geſetze daſtehen. Der materielle Grund dafür
lag wohl darin, daß allerdings das Entlaſtungs- und Auftheilungs-
weſen überhaupt nur einmal auftreten kann, während die Enteignung
als ein dauerndes Element des öffentlichen Rechts erſcheint. Und da
nun der Proceß, der den Sieg der ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaft bedeu-
tet, in ſehr verſchiedenen Abſtufungen und Formen auftritt, ſo iſt auch
eine formelle Gleichartigkeit der Entwährungsgeſetzgebung weder zu er-
warten, noch auch vorhanden. Dennoch iſt die Grundlage für alle
Staaten Europas dieſelbe; und daher iſt bei aller formellen Ungleichheit
in den Rechtsſätzen eine ſo große Gleichheit, wie vielleicht in gar
keinem andern Theile des ganzen Verwaltungsrechts. Es iſt deßhalb
ſehr leicht, dieſe gemeinſame Grundlage zu bezeichnen, und auf derſelben
die poſitive Geſtalt der Entwährungs-Rechtsbildung zu charakteriſiren.

So wie man zunächſt anerkennt, daß dieſelbe der Entwicklung der
ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaft in ihrem Kampfe mit der Geſchlechter- und
Ständeordnung angehört, ſo erklärt es ſich, weßhalb das ganze römiſche
und canoniſche Recht von dem Entwährungsrecht auch nicht einmal
eine Vorſtellung haben. Wenn hochbegabte Männer wie Aeneas Syl-
vius
(De ortu et auctoritate imperii c. 17) die Nothwendigkeit eines
ſolchen Rechts ahnen, ſo ſtehen ſie eben damit ſchon hoch über ihrer
Zeit. Denn natürlich kann auch in der germaniſchen Welt unter der
Herrſchaft der Geſchlechter- und der Ständeordnung von dem Princip
oder Inhalt der Entwährung in keiner Richtung die Rede ſein, um
ſo weniger, als das römiſche Recht keinen Anſtoß dazu gab. Erſt mit
dem 17. Jahrhundert, in dem das Princip der ſtaatsbürgerlichen Ge-
ſellſchaft ſeine erſten Strahlen auf die Wiſſenſchaft wirft, entſteht mit
der Staatswiſſenſchaft zugleich die Frage, wie ſich denn das Imperium
oder Dominium, die Obrigkeit oder das Königthum, nicht bloß zu der
Geſetzgebung im Allgemeinen, ſondern ſpeciell auch zum Privatrecht
verhalte. Und ſchon hier wird der Grundgedanke ausdrücklich und als
etwas ganz unbezweifeltes ausgeſprochen, daß das wahre Bedürfniß
des Staats, die necessitas Imperii, das Recht auf Aufhebung auch
des Privateigenthums enthalte. Von da an iſt dieß Princip nie

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[89/0107] gebung; und hier mag es wohl geſtattet ſein, einige Worte hinzuzu- fügen, welche den Ueberblick erleichtern. Zuerſt mangelt allerdings auch der Geſetzgebung das Bewußtſein, daß alle Formen der Entwährung zuletzt einem und demſelben Princip und der Geſchichte der ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaft gemeinſam ange- hören. Daher finden wir denn auch hier dieſelbe Erſcheinung, daß die Geſetzgebungen über Entlaſtung, Auftheilung und Enteignung ganz un- abhängig und ganz ohne Beziehung auf einander entſtanden ſind und als lauter ſelbſtändige Geſetze daſtehen. Der materielle Grund dafür lag wohl darin, daß allerdings das Entlaſtungs- und Auftheilungs- weſen überhaupt nur einmal auftreten kann, während die Enteignung als ein dauerndes Element des öffentlichen Rechts erſcheint. Und da nun der Proceß, der den Sieg der ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaft bedeu- tet, in ſehr verſchiedenen Abſtufungen und Formen auftritt, ſo iſt auch eine formelle Gleichartigkeit der Entwährungsgeſetzgebung weder zu er- warten, noch auch vorhanden. Dennoch iſt die Grundlage für alle Staaten Europas dieſelbe; und daher iſt bei aller formellen Ungleichheit in den Rechtsſätzen eine ſo große Gleichheit, wie vielleicht in gar keinem andern Theile des ganzen Verwaltungsrechts. Es iſt deßhalb ſehr leicht, dieſe gemeinſame Grundlage zu bezeichnen, und auf derſelben die poſitive Geſtalt der Entwährungs-Rechtsbildung zu charakteriſiren. So wie man zunächſt anerkennt, daß dieſelbe der Entwicklung der ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaft in ihrem Kampfe mit der Geſchlechter- und Ständeordnung angehört, ſo erklärt es ſich, weßhalb das ganze römiſche und canoniſche Recht von dem Entwährungsrecht auch nicht einmal eine Vorſtellung haben. Wenn hochbegabte Männer wie Aeneas Syl- vius (De ortu et auctoritate imperii c. 17) die Nothwendigkeit eines ſolchen Rechts ahnen, ſo ſtehen ſie eben damit ſchon hoch über ihrer Zeit. Denn natürlich kann auch in der germaniſchen Welt unter der Herrſchaft der Geſchlechter- und der Ständeordnung von dem Princip oder Inhalt der Entwährung in keiner Richtung die Rede ſein, um ſo weniger, als das römiſche Recht keinen Anſtoß dazu gab. Erſt mit dem 17. Jahrhundert, in dem das Princip der ſtaatsbürgerlichen Ge- ſellſchaft ſeine erſten Strahlen auf die Wiſſenſchaft wirft, entſteht mit der Staatswiſſenſchaft zugleich die Frage, wie ſich denn das Imperium oder Dominium, die Obrigkeit oder das Königthum, nicht bloß zu der Geſetzgebung im Allgemeinen, ſondern ſpeciell auch zum Privatrecht verhalte. Und ſchon hier wird der Grundgedanke ausdrücklich und als etwas ganz unbezweifeltes ausgeſprochen, daß das wahre Bedürfniß des Staats, die necessitas Imperii, das Recht auf Aufhebung auch des Privateigenthums enthalte. Von da an iſt dieß Princip nie

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Zitationshilfe: Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 7. Stuttgart, 1868, S. 89. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stein_verwaltungslehre07_1868/107>, abgerufen am 28.04.2024.