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Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 7. Stuttgart, 1868.

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Bevor wir nun auf dieser Grundlage zu den einzelnen Entwährungen
übergehen, scheint es von Wichtigkeit, das geltende Recht der Entwäh-
rung in den verschiedenen Staaten zu charakterisiren.

VI. Elemente der Geschichte der Entwährungen. Charakter der Gesetzgebung
von Frankreich, England und Dentschland.

Die eben bezeichnete Natur der Entwährungen hat nun auch die
historische Entwicklung desselben sowohl in Theorie als in Gesetzgebung
bestimmt. Es ist zwar kein Zweifel, daß alle Arten der Entwährung
auf demselben Principe ruhen und daher auch innerlich ein Ganzes
bilden; eben so gewiß ist es, daß die Principien für das Verfahren in
allen diesen Arten dieselben sind. Allein die höhere Einheit, welche sie
alle umfaßt, ist doch zuletzt nur das Wesen der staatsbürgerlichen Ge-
sellschaft, und bei dem Verfahren die Idee und Aufgabe der inneren
Verwaltung. Beide Begriffe aber fehlten. Und so war es natürlich,
daß vermöge des Mangels auf dem ersten Punkte die ganze Entwäh-
rungslehre und ihr Recht niemals als ein Ganzes aufgefaßt und nie-
mals systematisch behandelt worden ist, während durch den Mangel
einer organischen Verwaltungslehre alle Gebiete der Entwährung ohne
eigentliche Heimath in der Wissenschaft dastehen. Es ist auch nicht ein-
mal versucht worden, ihnen ihre rechte Stelle anzuweisen; und eben so
wenig haben wir den Versuch gefunden, selbst in der neuesten Zeit bei
den eingehenden Behandlungen des Expropriationsrechts nicht, alle jene
Arten unter Einem Gesichtspunkt zusammen zu fassen.

Der Charakter der Rechtsbildung für die Entwährung beruht daher
darauf, daß jede einzelne Art der Entwährung ihre eigene Geschichte
und ihre eigene Literatur hat
. Und es bleibt uns daher nichts
anderes übrig, als bei jedem einzelnen Theile dieser Geschichte und Li-
teratur selbständig nachzuholen.

Demnach steht wohl die Aufgabe der Verwaltungslehre fest, jene höhere
Einheit in all diesen so eng verwandten, aus derselben großen Quelle
entspringenden Erscheinungen festzuhalten. Wir haben dieß versucht,
und als nächsten Ausdruck dieses Grundgedankens den Gesammtnamen
der "Entwährung" aufgestellt, der von allen Worten am besten die
beiden Momente, die Entziehung des Eigenthums und die Entschädi-
gung, bezeichnet, und dadurch eben die Entwährung von den übrigen
Theilen der staatsbürgerlichen Rechtsbildung unterscheidet. Daß wir
dabei den Ausdruck "Enteignung" statt der Expropriation gebrauchen,
bedarf wohl keiner Motivirung.

Denselben Charakter, wie die Literatur, hat nun auch die Gesetz-

Bevor wir nun auf dieſer Grundlage zu den einzelnen Entwährungen
übergehen, ſcheint es von Wichtigkeit, das geltende Recht der Entwäh-
rung in den verſchiedenen Staaten zu charakteriſiren.

VI. Elemente der Geſchichte der Entwährungen. Charakter der Geſetzgebung
von Frankreich, England und Dentſchland.

Die eben bezeichnete Natur der Entwährungen hat nun auch die
hiſtoriſche Entwicklung deſſelben ſowohl in Theorie als in Geſetzgebung
beſtimmt. Es iſt zwar kein Zweifel, daß alle Arten der Entwährung
auf demſelben Principe ruhen und daher auch innerlich ein Ganzes
bilden; eben ſo gewiß iſt es, daß die Principien für das Verfahren in
allen dieſen Arten dieſelben ſind. Allein die höhere Einheit, welche ſie
alle umfaßt, iſt doch zuletzt nur das Weſen der ſtaatsbürgerlichen Ge-
ſellſchaft, und bei dem Verfahren die Idee und Aufgabe der inneren
Verwaltung. Beide Begriffe aber fehlten. Und ſo war es natürlich,
daß vermöge des Mangels auf dem erſten Punkte die ganze Entwäh-
rungslehre und ihr Recht niemals als ein Ganzes aufgefaßt und nie-
mals ſyſtematiſch behandelt worden iſt, während durch den Mangel
einer organiſchen Verwaltungslehre alle Gebiete der Entwährung ohne
eigentliche Heimath in der Wiſſenſchaft daſtehen. Es iſt auch nicht ein-
mal verſucht worden, ihnen ihre rechte Stelle anzuweiſen; und eben ſo
wenig haben wir den Verſuch gefunden, ſelbſt in der neueſten Zeit bei
den eingehenden Behandlungen des Expropriationsrechts nicht, alle jene
Arten unter Einem Geſichtspunkt zuſammen zu faſſen.

Der Charakter der Rechtsbildung für die Entwährung beruht daher
darauf, daß jede einzelne Art der Entwährung ihre eigene Geſchichte
und ihre eigene Literatur hat
. Und es bleibt uns daher nichts
anderes übrig, als bei jedem einzelnen Theile dieſer Geſchichte und Li-
teratur ſelbſtändig nachzuholen.

Demnach ſteht wohl die Aufgabe der Verwaltungslehre feſt, jene höhere
Einheit in all dieſen ſo eng verwandten, aus derſelben großen Quelle
entſpringenden Erſcheinungen feſtzuhalten. Wir haben dieß verſucht,
und als nächſten Ausdruck dieſes Grundgedankens den Geſammtnamen
der „Entwährung“ aufgeſtellt, der von allen Worten am beſten die
beiden Momente, die Entziehung des Eigenthums und die Entſchädi-
gung, bezeichnet, und dadurch eben die Entwährung von den übrigen
Theilen der ſtaatsbürgerlichen Rechtsbildung unterſcheidet. Daß wir
dabei den Ausdruck „Enteignung“ ſtatt der Expropriation gebrauchen,
bedarf wohl keiner Motivirung.

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[88/0106] Bevor wir nun auf dieſer Grundlage zu den einzelnen Entwährungen übergehen, ſcheint es von Wichtigkeit, das geltende Recht der Entwäh- rung in den verſchiedenen Staaten zu charakteriſiren. VI. Elemente der Geſchichte der Entwährungen. Charakter der Geſetzgebung von Frankreich, England und Dentſchland. Die eben bezeichnete Natur der Entwährungen hat nun auch die hiſtoriſche Entwicklung deſſelben ſowohl in Theorie als in Geſetzgebung beſtimmt. Es iſt zwar kein Zweifel, daß alle Arten der Entwährung auf demſelben Principe ruhen und daher auch innerlich ein Ganzes bilden; eben ſo gewiß iſt es, daß die Principien für das Verfahren in allen dieſen Arten dieſelben ſind. Allein die höhere Einheit, welche ſie alle umfaßt, iſt doch zuletzt nur das Weſen der ſtaatsbürgerlichen Ge- ſellſchaft, und bei dem Verfahren die Idee und Aufgabe der inneren Verwaltung. Beide Begriffe aber fehlten. Und ſo war es natürlich, daß vermöge des Mangels auf dem erſten Punkte die ganze Entwäh- rungslehre und ihr Recht niemals als ein Ganzes aufgefaßt und nie- mals ſyſtematiſch behandelt worden iſt, während durch den Mangel einer organiſchen Verwaltungslehre alle Gebiete der Entwährung ohne eigentliche Heimath in der Wiſſenſchaft daſtehen. Es iſt auch nicht ein- mal verſucht worden, ihnen ihre rechte Stelle anzuweiſen; und eben ſo wenig haben wir den Verſuch gefunden, ſelbſt in der neueſten Zeit bei den eingehenden Behandlungen des Expropriationsrechts nicht, alle jene Arten unter Einem Geſichtspunkt zuſammen zu faſſen. Der Charakter der Rechtsbildung für die Entwährung beruht daher darauf, daß jede einzelne Art der Entwährung ihre eigene Geſchichte und ihre eigene Literatur hat. Und es bleibt uns daher nichts anderes übrig, als bei jedem einzelnen Theile dieſer Geſchichte und Li- teratur ſelbſtändig nachzuholen. Demnach ſteht wohl die Aufgabe der Verwaltungslehre feſt, jene höhere Einheit in all dieſen ſo eng verwandten, aus derſelben großen Quelle entſpringenden Erſcheinungen feſtzuhalten. Wir haben dieß verſucht, und als nächſten Ausdruck dieſes Grundgedankens den Geſammtnamen der „Entwährung“ aufgeſtellt, der von allen Worten am beſten die beiden Momente, die Entziehung des Eigenthums und die Entſchädi- gung, bezeichnet, und dadurch eben die Entwährung von den übrigen Theilen der ſtaatsbürgerlichen Rechtsbildung unterſcheidet. Daß wir dabei den Ausdruck „Enteignung“ ſtatt der Expropriation gebrauchen, bedarf wohl keiner Motivirung. Denſelben Charakter, wie die Literatur, hat nun auch die Geſetz-

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Zitationshilfe: Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 7. Stuttgart, 1868, S. 88. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stein_verwaltungslehre07_1868/106>, abgerufen am 28.04.2024.