eben die Herstellung eines, das ganze Volk umfassenden wirthschaft- lichen Bildungssystems. Wir haben es bezeichnet; sein Kern ist einer- seits die Gewerbeschule, andererseits die Realschule. Es gelang. Der Fortschritt Deutschlands war selbst für die Selbstüberschätzung der Fran- zosen auf die Dauer nicht zu verkennen. Schon die vierziger Jahre brachten eine dunkle Vorstellung von der Bedeutung der Sache mit nach Frankreich; man fühlte, daß Frankreich dem deutschen Beispiel nachfolgen müsse, wenn es nicht überflügelt werden wolle. Allein da- mit entstand nun die eigentliche Schwierigkeit. Das deutsche System der wirthschaftlichen Bildung beruht auf der Selbstverwaltung, und Selbstverwaltung wollte und konnte das französische Recht nicht geben; eine Einrichtung der wirthschaftlichen Bildung von Staatswegen wußte man aber nicht zu formuliren. Die Literatur über die Frage blieb daher auf halbem Wege stehen; sie vermochte namentlich nicht zwischen den Gewerbe- und Realschulen zu unterscheiden, und es blieb daher nichts übrig, als das allgemeine Gefühl, daß hier etwas geschehen müsse, um die "Bildung des Arbeiterstandes" zu heben. Das war nun der Punkt, an dem die socialistische Bewegung die Sache im Jahre 1848 ergriff, ohne jedoch sie noch klar zu verstehen. Die Verfassung von 1848 nahm die "education professionelle" im Art. 13 in die Aufgaben des Staats auf; aber damit war noch wenig mehr als ein Wort gewonnen. Ebenso blieb das Gesetz vom 15. März 1850 bei demselben stehen; jedoch schwebt schon hier die Tendenz deutlich vor, eben Gewerbeschulen zu errichten, ohne daß man zu der Idee einer höhern wirthschaftlichen Volksbildung gelangt wäre. Man wußte, daß die Instruction primaire ungenügend sei; man erkannte abstract die Nothwendigkeit, die Entwicklung der Arbeiter zu fördern; aber man blieb anfangs bei der Anwendung auf den Bürgerstand stehen. In der That war ihm bisher nichts geboten als das Gymnase; dasselbe war bei weitem vorwiegend auf formale klassische Bildung angewiesen; für das wirthschaftliche Bedürfniß war gar nicht gesorgt. Dieß letztere aber war am verständlichsten; das Beispiel der deutschen Realschulen lag vor; man hätte sie gerne eingeführt, aber sie hätten das ganze System der Universite gebrochen. Wollte man daher die Idee der Realschulen mit dem alten napoleonischen Princip vereinigen, so mußte man diese wirthschaftliche Bildung zu einem Theile des allgemeinen Systems machen. Das nun geschah durch das Gesetz von 1852, welches die letztere in der eigenthümlichen Form des sogenannten Bifurcations- systems aufnahm, nach welchem die höchste Abtheilung der Lycees sich in eine gelehrte und eine wirthschaftliche Abtheilung spaltete, eine Spal- tung, welche nur in den Facultes fortgesetzt ward. Den Ausdruck dieses
eben die Herſtellung eines, das ganze Volk umfaſſenden wirthſchaft- lichen Bildungsſyſtems. Wir haben es bezeichnet; ſein Kern iſt einer- ſeits die Gewerbeſchule, andererſeits die Realſchule. Es gelang. Der Fortſchritt Deutſchlands war ſelbſt für die Selbſtüberſchätzung der Fran- zoſen auf die Dauer nicht zu verkennen. Schon die vierziger Jahre brachten eine dunkle Vorſtellung von der Bedeutung der Sache mit nach Frankreich; man fühlte, daß Frankreich dem deutſchen Beiſpiel nachfolgen müſſe, wenn es nicht überflügelt werden wolle. Allein da- mit entſtand nun die eigentliche Schwierigkeit. Das deutſche Syſtem der wirthſchaftlichen Bildung beruht auf der Selbſtverwaltung, und Selbſtverwaltung wollte und konnte das franzöſiſche Recht nicht geben; eine Einrichtung der wirthſchaftlichen Bildung von Staatswegen wußte man aber nicht zu formuliren. Die Literatur über die Frage blieb daher auf halbem Wege ſtehen; ſie vermochte namentlich nicht zwiſchen den Gewerbe- und Realſchulen zu unterſcheiden, und es blieb daher nichts übrig, als das allgemeine Gefühl, daß hier etwas geſchehen müſſe, um die „Bildung des Arbeiterſtandes“ zu heben. Das war nun der Punkt, an dem die ſocialiſtiſche Bewegung die Sache im Jahre 1848 ergriff, ohne jedoch ſie noch klar zu verſtehen. Die Verfaſſung von 1848 nahm die „éducation professionelle“ im Art. 13 in die Aufgaben des Staats auf; aber damit war noch wenig mehr als ein Wort gewonnen. Ebenſo blieb das Geſetz vom 15. März 1850 bei demſelben ſtehen; jedoch ſchwebt ſchon hier die Tendenz deutlich vor, eben Gewerbeſchulen zu errichten, ohne daß man zu der Idee einer höhern wirthſchaftlichen Volksbildung gelangt wäre. Man wußte, daß die Instruction primaire ungenügend ſei; man erkannte abſtract die Nothwendigkeit, die Entwicklung der Arbeiter zu fördern; aber man blieb anfangs bei der Anwendung auf den Bürgerſtand ſtehen. In der That war ihm bisher nichts geboten als das Gymnase; daſſelbe war bei weitem vorwiegend auf formale klaſſiſche Bildung angewieſen; für das wirthſchaftliche Bedürfniß war gar nicht geſorgt. Dieß letztere aber war am verſtändlichſten; das Beiſpiel der deutſchen Realſchulen lag vor; man hätte ſie gerne eingeführt, aber ſie hätten das ganze Syſtem der Université gebrochen. Wollte man daher die Idee der Realſchulen mit dem alten napoleoniſchen Princip vereinigen, ſo mußte man dieſe wirthſchaftliche Bildung zu einem Theile des allgemeinen Syſtems machen. Das nun geſchah durch das Geſetz von 1852, welches die letztere in der eigenthümlichen Form des ſogenannten Bifurcations- ſyſtems aufnahm, nach welchem die höchſte Abtheilung der Lycées ſich in eine gelehrte und eine wirthſchaftliche Abtheilung ſpaltete, eine Spal- tung, welche nur in den Facultés fortgeſetzt ward. Den Ausdruck dieſes
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><divn="4"><divn="5"><divn="6"><p><pbfacs="#f0319"n="291"/>
eben die Herſtellung eines, das ganze Volk umfaſſenden wirthſchaft-<lb/>
lichen Bildungsſyſtems. Wir haben es bezeichnet; ſein Kern iſt einer-<lb/>ſeits die Gewerbeſchule, andererſeits die Realſchule. Es gelang. Der<lb/>
Fortſchritt Deutſchlands war ſelbſt für die Selbſtüberſchätzung der Fran-<lb/>
zoſen auf die Dauer nicht zu verkennen. Schon die vierziger Jahre<lb/>
brachten eine dunkle Vorſtellung von der Bedeutung der Sache mit<lb/>
nach Frankreich; man fühlte, daß Frankreich dem deutſchen Beiſpiel<lb/>
nachfolgen müſſe, wenn es nicht überflügelt werden wolle. Allein da-<lb/>
mit entſtand nun die eigentliche Schwierigkeit. Das deutſche Syſtem<lb/>
der wirthſchaftlichen Bildung beruht auf der Selbſtverwaltung, und<lb/>
Selbſtverwaltung wollte und konnte das franzöſiſche Recht nicht geben;<lb/>
eine Einrichtung der wirthſchaftlichen Bildung von Staatswegen wußte<lb/>
man aber nicht zu formuliren. Die Literatur über die Frage blieb<lb/>
daher auf halbem Wege ſtehen; ſie vermochte namentlich nicht zwiſchen<lb/>
den Gewerbe- und Realſchulen zu unterſcheiden, und es blieb daher<lb/>
nichts übrig, als das allgemeine Gefühl, daß hier etwas geſchehen<lb/>
müſſe, um die „Bildung des Arbeiterſtandes“ zu heben. Das war<lb/>
nun der Punkt, an dem die ſocialiſtiſche Bewegung die Sache im Jahre<lb/>
1848 ergriff, ohne jedoch ſie noch klar zu verſtehen. Die Verfaſſung<lb/>
von 1848 nahm die <hirendition="#aq">„éducation professionelle“</hi> im Art. 13 in die<lb/>
Aufgaben des Staats auf; aber damit war noch wenig mehr als ein<lb/>
Wort gewonnen. Ebenſo blieb das Geſetz vom 15. März 1850 bei<lb/>
demſelben ſtehen; jedoch ſchwebt ſchon hier die Tendenz deutlich vor,<lb/>
eben Gewerbeſchulen zu errichten, ohne daß man zu der Idee einer<lb/>
höhern wirthſchaftlichen Volksbildung gelangt wäre. Man wußte, daß<lb/>
die <hirendition="#aq">Instruction primaire</hi> ungenügend ſei; man erkannte abſtract die<lb/>
Nothwendigkeit, die Entwicklung der Arbeiter zu fördern; aber man<lb/>
blieb anfangs bei der Anwendung auf den Bürgerſtand ſtehen. In<lb/>
der That war ihm bisher nichts geboten als das <hirendition="#aq">Gymnase;</hi> daſſelbe<lb/>
war bei weitem vorwiegend auf formale klaſſiſche Bildung angewieſen;<lb/>
für das wirthſchaftliche Bedürfniß war gar nicht geſorgt. Dieß letztere<lb/>
aber war am verſtändlichſten; das Beiſpiel der deutſchen Realſchulen<lb/>
lag vor; man hätte ſie gerne eingeführt, aber ſie hätten das ganze<lb/>
Syſtem der <hirendition="#aq">Université</hi> gebrochen. Wollte man daher die Idee der<lb/>
Realſchulen mit dem alten napoleoniſchen Princip vereinigen, ſo mußte<lb/>
man dieſe wirthſchaftliche Bildung zu einem <hirendition="#g">Theile</hi> des allgemeinen<lb/>
Syſtems machen. Das nun geſchah durch das Geſetz von 1852, welches<lb/>
die letztere in der eigenthümlichen Form des ſogenannten Bifurcations-<lb/>ſyſtems aufnahm, nach welchem die höchſte Abtheilung der <hirendition="#aq">Lycées</hi>ſich<lb/>
in eine gelehrte und eine wirthſchaftliche Abtheilung ſpaltete, eine Spal-<lb/>
tung, welche nur in den <hirendition="#aq">Facultés</hi> fortgeſetzt ward. Den Ausdruck dieſes<lb/></p></div></div></div></div></div></div></body></text></TEI>
[291/0319]
eben die Herſtellung eines, das ganze Volk umfaſſenden wirthſchaft-
lichen Bildungsſyſtems. Wir haben es bezeichnet; ſein Kern iſt einer-
ſeits die Gewerbeſchule, andererſeits die Realſchule. Es gelang. Der
Fortſchritt Deutſchlands war ſelbſt für die Selbſtüberſchätzung der Fran-
zoſen auf die Dauer nicht zu verkennen. Schon die vierziger Jahre
brachten eine dunkle Vorſtellung von der Bedeutung der Sache mit
nach Frankreich; man fühlte, daß Frankreich dem deutſchen Beiſpiel
nachfolgen müſſe, wenn es nicht überflügelt werden wolle. Allein da-
mit entſtand nun die eigentliche Schwierigkeit. Das deutſche Syſtem
der wirthſchaftlichen Bildung beruht auf der Selbſtverwaltung, und
Selbſtverwaltung wollte und konnte das franzöſiſche Recht nicht geben;
eine Einrichtung der wirthſchaftlichen Bildung von Staatswegen wußte
man aber nicht zu formuliren. Die Literatur über die Frage blieb
daher auf halbem Wege ſtehen; ſie vermochte namentlich nicht zwiſchen
den Gewerbe- und Realſchulen zu unterſcheiden, und es blieb daher
nichts übrig, als das allgemeine Gefühl, daß hier etwas geſchehen
müſſe, um die „Bildung des Arbeiterſtandes“ zu heben. Das war
nun der Punkt, an dem die ſocialiſtiſche Bewegung die Sache im Jahre
1848 ergriff, ohne jedoch ſie noch klar zu verſtehen. Die Verfaſſung
von 1848 nahm die „éducation professionelle“ im Art. 13 in die
Aufgaben des Staats auf; aber damit war noch wenig mehr als ein
Wort gewonnen. Ebenſo blieb das Geſetz vom 15. März 1850 bei
demſelben ſtehen; jedoch ſchwebt ſchon hier die Tendenz deutlich vor,
eben Gewerbeſchulen zu errichten, ohne daß man zu der Idee einer
höhern wirthſchaftlichen Volksbildung gelangt wäre. Man wußte, daß
die Instruction primaire ungenügend ſei; man erkannte abſtract die
Nothwendigkeit, die Entwicklung der Arbeiter zu fördern; aber man
blieb anfangs bei der Anwendung auf den Bürgerſtand ſtehen. In
der That war ihm bisher nichts geboten als das Gymnase; daſſelbe
war bei weitem vorwiegend auf formale klaſſiſche Bildung angewieſen;
für das wirthſchaftliche Bedürfniß war gar nicht geſorgt. Dieß letztere
aber war am verſtändlichſten; das Beiſpiel der deutſchen Realſchulen
lag vor; man hätte ſie gerne eingeführt, aber ſie hätten das ganze
Syſtem der Université gebrochen. Wollte man daher die Idee der
Realſchulen mit dem alten napoleoniſchen Princip vereinigen, ſo mußte
man dieſe wirthſchaftliche Bildung zu einem Theile des allgemeinen
Syſtems machen. Das nun geſchah durch das Geſetz von 1852, welches
die letztere in der eigenthümlichen Form des ſogenannten Bifurcations-
ſyſtems aufnahm, nach welchem die höchſte Abtheilung der Lycées ſich
in eine gelehrte und eine wirthſchaftliche Abtheilung ſpaltete, eine Spal-
tung, welche nur in den Facultés fortgeſetzt ward. Den Ausdruck dieſes
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 5. Stuttgart, 1868, S. 291. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stein_verwaltungslehre05_1868/319>, abgerufen am 24.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.