Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 4. Stuttgart, 1867.

Bild:
<< vorherige Seite

Das geltende Recht der großen Staaten Europas ist nun gerade
auf diesem Punkte nicht bloß dem Umfange und den Einzelheiten nach,
sondern in seinem innersten Charakter so verschieden, daß es wenig Dinge
gibt, in denen der tiefe Unterschied des öffentlichen Rechtszustandes so
bestimmt ausgeprägt wäre, den uns die neuere Gestaltung des öffent-
lichen Rechts gebracht hat. Obwohl uns -- vielleicht eben deßhalb --
eine eingehende Literatur und wissenschaftliche Behandlung mangelt, so
wollen wir dennoch versuchen, die Grundlagen dieses Theiles der Wissen-
schaft hier anzudeuten. In der That gehört nämlich dieß Gebiet zu
denjenigen, in denen ohne eine Vergleichung des Charakters der ver-
schiedenen Staaten das Verständniß und die Beurtheilung der einzelnen
beinahe unmöglich ist; und es ist der Mangel eben einer solchen Ver-
gleichung wohl nicht der letzte Grund, weßhalb die sonst so reiche deutsche
Strafrechtsliteratur auch in diesem Theile nicht nur nicht der syste-
matischen Behandlung, sondern selbst der Kenntniß des geltenden Rechts in
den deutschen Staaten zu ermangeln scheint. Sie ist auch hier nicht über-
den Inhalt der Strafproceßordnungen hinausgekommen
.
Wir hätten allen Grund gehabt, namentlich den neuern Schriftstellern
wie Pohlmann (über das Wesen der administrativen contentiösen
Sachen mit besonderer Rücksicht auf Bayern, Näff, das Verhältniß
der Gerichte zu den Staats- und Regierungssachen (Zeitschr. für Civil-
recht in Preußen, XII. 1. 22), welche gegen, und Bähr, der Rechts-
staat, 1864, welcher in energischer und geistreicher Weise für das Klage-
recht bei den Funktionen der Regierungsorgane eingetreten sind, zu
danken, wenn sie außer abstrakten Gründen sich auch auf das bezogen
hätten, was bereits in den einzelnen Staaten Europas Rechtens ist.
Die Weiterentwicklung wird erst beginnen, wenn wir ein wissenschaft-
liches Polizeirecht als Theil der Lehre von der vollziehenden Gewalt
besitzen werden.

Das englische Princip des Haftungsrechts ist ein sehr einfaches.
Es ist bereits in der vollziehenden Gewalt S. 130 ff. dargestellt, und
zwar in seiner allgemeinen Form. Die Haftung für die Anwendung
der Vollzugsgewalt ist nicht nur keine andere als die allgemeine, sondern
bildet recht eigentlich das Gebiet für die Geltung des englischen Rechts.
Auf seine einfachsten Grundsätze zurückgeführt, besteht dasselbe in folgen-
den Punkten. Jedes Vollzugsorgan, also namentlich der Friedens-
richter, haftet für jeden Akt des Vollzuges. Die Haftung tritt jedoch
niemals ein von Seiten der oberen Behörde, sondern stets von Seiten
des Einzelnen, der sie durch eine förmliche Klage gegen die Organe
geltend machen muß. Das Beschwerderecht ist hier in das Klagrecht
aufgegangen, und eine Unterscheidung zwischen der Verordnung und

Das geltende Recht der großen Staaten Europas iſt nun gerade
auf dieſem Punkte nicht bloß dem Umfange und den Einzelheiten nach,
ſondern in ſeinem innerſten Charakter ſo verſchieden, daß es wenig Dinge
gibt, in denen der tiefe Unterſchied des öffentlichen Rechtszuſtandes ſo
beſtimmt ausgeprägt wäre, den uns die neuere Geſtaltung des öffent-
lichen Rechts gebracht hat. Obwohl uns — vielleicht eben deßhalb —
eine eingehende Literatur und wiſſenſchaftliche Behandlung mangelt, ſo
wollen wir dennoch verſuchen, die Grundlagen dieſes Theiles der Wiſſen-
ſchaft hier anzudeuten. In der That gehört nämlich dieß Gebiet zu
denjenigen, in denen ohne eine Vergleichung des Charakters der ver-
ſchiedenen Staaten das Verſtändniß und die Beurtheilung der einzelnen
beinahe unmöglich iſt; und es iſt der Mangel eben einer ſolchen Ver-
gleichung wohl nicht der letzte Grund, weßhalb die ſonſt ſo reiche deutſche
Strafrechtsliteratur auch in dieſem Theile nicht nur nicht der ſyſte-
matiſchen Behandlung, ſondern ſelbſt der Kenntniß des geltenden Rechts in
den deutſchen Staaten zu ermangeln ſcheint. Sie iſt auch hier nicht über-
den Inhalt der Strafproceßordnungen hinausgekommen
.
Wir hätten allen Grund gehabt, namentlich den neuern Schriftſtellern
wie Pohlmann (über das Weſen der adminiſtrativen contentiöſen
Sachen mit beſonderer Rückſicht auf Bayern, Näff, das Verhältniß
der Gerichte zu den Staats- und Regierungsſachen (Zeitſchr. für Civil-
recht in Preußen, XII. 1. 22), welche gegen, und Bähr, der Rechts-
ſtaat, 1864, welcher in energiſcher und geiſtreicher Weiſe für das Klage-
recht bei den Funktionen der Regierungsorgane eingetreten ſind, zu
danken, wenn ſie außer abſtrakten Gründen ſich auch auf das bezogen
hätten, was bereits in den einzelnen Staaten Europas Rechtens iſt.
Die Weiterentwicklung wird erſt beginnen, wenn wir ein wiſſenſchaft-
liches Polizeirecht als Theil der Lehre von der vollziehenden Gewalt
beſitzen werden.

Das engliſche Princip des Haftungsrechts iſt ein ſehr einfaches.
Es iſt bereits in der vollziehenden Gewalt S. 130 ff. dargeſtellt, und
zwar in ſeiner allgemeinen Form. Die Haftung für die Anwendung
der Vollzugsgewalt iſt nicht nur keine andere als die allgemeine, ſondern
bildet recht eigentlich das Gebiet für die Geltung des engliſchen Rechts.
Auf ſeine einfachſten Grundſätze zurückgeführt, beſteht daſſelbe in folgen-
den Punkten. Jedes Vollzugsorgan, alſo namentlich der Friedens-
richter, haftet für jeden Akt des Vollzuges. Die Haftung tritt jedoch
niemals ein von Seiten der oberen Behörde, ſondern ſtets von Seiten
des Einzelnen, der ſie durch eine förmliche Klage gegen die Organe
geltend machen muß. Das Beſchwerderecht iſt hier in das Klagrecht
aufgegangen, und eine Unterſcheidung zwiſchen der Verordnung und

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <div n="5">
                <div n="6">
                  <pb facs="#f0105" n="83"/>
                  <p>Das geltende Recht der großen Staaten Europas i&#x017F;t nun gerade<lb/>
auf die&#x017F;em Punkte nicht bloß dem Umfange und den Einzelheiten nach,<lb/>
&#x017F;ondern in &#x017F;einem inner&#x017F;ten Charakter &#x017F;o ver&#x017F;chieden, daß es wenig Dinge<lb/>
gibt, in denen der tiefe Unter&#x017F;chied des öffentlichen Rechtszu&#x017F;tandes &#x017F;o<lb/>
be&#x017F;timmt ausgeprägt wäre, den uns die neuere Ge&#x017F;taltung des öffent-<lb/>
lichen Rechts gebracht hat. Obwohl uns &#x2014; vielleicht eben deßhalb &#x2014;<lb/>
eine eingehende Literatur und wi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaftliche Behandlung mangelt, &#x017F;o<lb/>
wollen wir dennoch ver&#x017F;uchen, die Grundlagen die&#x017F;es Theiles der Wi&#x017F;&#x017F;en-<lb/>
&#x017F;chaft hier anzudeuten. In der That gehört nämlich dieß Gebiet zu<lb/>
denjenigen, in denen ohne eine Vergleichung des Charakters der ver-<lb/>
&#x017F;chiedenen Staaten das Ver&#x017F;tändniß und die Beurtheilung der einzelnen<lb/>
beinahe unmöglich i&#x017F;t; und es i&#x017F;t der Mangel eben einer &#x017F;olchen Ver-<lb/>
gleichung wohl nicht der letzte Grund, weßhalb die &#x017F;on&#x017F;t &#x017F;o reiche deut&#x017F;che<lb/>
Strafrechtsliteratur auch in die&#x017F;em Theile nicht nur nicht der &#x017F;y&#x017F;te-<lb/>
mati&#x017F;chen Behandlung, &#x017F;ondern &#x017F;elb&#x017F;t der Kenntniß des geltenden Rechts in<lb/>
den deut&#x017F;chen Staaten zu ermangeln &#x017F;cheint. Sie i&#x017F;t auch hier <hi rendition="#g">nicht über-<lb/>
den Inhalt der Strafproceßordnungen hinausgekommen</hi>.<lb/>
Wir hätten allen Grund gehabt, namentlich den neuern Schrift&#x017F;tellern<lb/>
wie <hi rendition="#g">Pohlmann</hi> (über das We&#x017F;en der admini&#x017F;trativen contentiö&#x017F;en<lb/>
Sachen mit be&#x017F;onderer Rück&#x017F;icht auf Bayern, <hi rendition="#g">Näff</hi>, das Verhältniß<lb/>
der Gerichte zu den Staats- und Regierungs&#x017F;achen (Zeit&#x017F;chr. für Civil-<lb/>
recht in Preußen, <hi rendition="#aq">XII.</hi> 1. 22), welche gegen, und <hi rendition="#g">Bähr</hi>, der Rechts-<lb/>
&#x017F;taat, 1864, welcher in energi&#x017F;cher und gei&#x017F;treicher Wei&#x017F;e <hi rendition="#g">für</hi> das Klage-<lb/>
recht bei den Funktionen der Regierungsorgane eingetreten &#x017F;ind, zu<lb/>
danken, wenn &#x017F;ie außer ab&#x017F;trakten Gründen &#x017F;ich auch auf das bezogen<lb/>
hätten, was bereits in den einzelnen Staaten Europas Rechtens i&#x017F;t.<lb/>
Die Weiterentwicklung wird er&#x017F;t beginnen, wenn wir ein wi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaft-<lb/>
liches Polizeirecht als Theil der Lehre von der vollziehenden Gewalt<lb/>
be&#x017F;itzen werden.</p><lb/>
                  <p>Das <hi rendition="#g">engli&#x017F;che</hi> Princip des Haftungsrechts i&#x017F;t ein &#x017F;ehr einfaches.<lb/>
Es i&#x017F;t bereits in der vollziehenden Gewalt S. 130 ff. darge&#x017F;tellt, und<lb/>
zwar in &#x017F;einer allgemeinen Form. Die Haftung für die Anwendung<lb/>
der Vollzugsgewalt i&#x017F;t nicht nur keine andere als die allgemeine, &#x017F;ondern<lb/>
bildet recht eigentlich das Gebiet für die Geltung des engli&#x017F;chen Rechts.<lb/>
Auf &#x017F;eine einfach&#x017F;ten Grund&#x017F;ätze zurückgeführt, be&#x017F;teht da&#x017F;&#x017F;elbe in folgen-<lb/>
den Punkten. <hi rendition="#g">Jedes</hi> Vollzugsorgan, al&#x017F;o namentlich der Friedens-<lb/>
richter, haftet für <hi rendition="#g">jeden</hi> Akt des Vollzuges. Die Haftung tritt jedoch<lb/>
niemals ein von Seiten der oberen Behörde, &#x017F;ondern &#x017F;tets von Seiten<lb/>
des Einzelnen, der &#x017F;ie durch eine förmliche <hi rendition="#g">Klage</hi> gegen die Organe<lb/>
geltend machen muß. Das Be&#x017F;chwerderecht i&#x017F;t hier in das Klagrecht<lb/>
aufgegangen, und eine Unter&#x017F;cheidung zwi&#x017F;chen der Verordnung und<lb/></p>
                </div>
              </div>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[83/0105] Das geltende Recht der großen Staaten Europas iſt nun gerade auf dieſem Punkte nicht bloß dem Umfange und den Einzelheiten nach, ſondern in ſeinem innerſten Charakter ſo verſchieden, daß es wenig Dinge gibt, in denen der tiefe Unterſchied des öffentlichen Rechtszuſtandes ſo beſtimmt ausgeprägt wäre, den uns die neuere Geſtaltung des öffent- lichen Rechts gebracht hat. Obwohl uns — vielleicht eben deßhalb — eine eingehende Literatur und wiſſenſchaftliche Behandlung mangelt, ſo wollen wir dennoch verſuchen, die Grundlagen dieſes Theiles der Wiſſen- ſchaft hier anzudeuten. In der That gehört nämlich dieß Gebiet zu denjenigen, in denen ohne eine Vergleichung des Charakters der ver- ſchiedenen Staaten das Verſtändniß und die Beurtheilung der einzelnen beinahe unmöglich iſt; und es iſt der Mangel eben einer ſolchen Ver- gleichung wohl nicht der letzte Grund, weßhalb die ſonſt ſo reiche deutſche Strafrechtsliteratur auch in dieſem Theile nicht nur nicht der ſyſte- matiſchen Behandlung, ſondern ſelbſt der Kenntniß des geltenden Rechts in den deutſchen Staaten zu ermangeln ſcheint. Sie iſt auch hier nicht über- den Inhalt der Strafproceßordnungen hinausgekommen. Wir hätten allen Grund gehabt, namentlich den neuern Schriftſtellern wie Pohlmann (über das Weſen der adminiſtrativen contentiöſen Sachen mit beſonderer Rückſicht auf Bayern, Näff, das Verhältniß der Gerichte zu den Staats- und Regierungsſachen (Zeitſchr. für Civil- recht in Preußen, XII. 1. 22), welche gegen, und Bähr, der Rechts- ſtaat, 1864, welcher in energiſcher und geiſtreicher Weiſe für das Klage- recht bei den Funktionen der Regierungsorgane eingetreten ſind, zu danken, wenn ſie außer abſtrakten Gründen ſich auch auf das bezogen hätten, was bereits in den einzelnen Staaten Europas Rechtens iſt. Die Weiterentwicklung wird erſt beginnen, wenn wir ein wiſſenſchaft- liches Polizeirecht als Theil der Lehre von der vollziehenden Gewalt beſitzen werden. Das engliſche Princip des Haftungsrechts iſt ein ſehr einfaches. Es iſt bereits in der vollziehenden Gewalt S. 130 ff. dargeſtellt, und zwar in ſeiner allgemeinen Form. Die Haftung für die Anwendung der Vollzugsgewalt iſt nicht nur keine andere als die allgemeine, ſondern bildet recht eigentlich das Gebiet für die Geltung des engliſchen Rechts. Auf ſeine einfachſten Grundſätze zurückgeführt, beſteht daſſelbe in folgen- den Punkten. Jedes Vollzugsorgan, alſo namentlich der Friedens- richter, haftet für jeden Akt des Vollzuges. Die Haftung tritt jedoch niemals ein von Seiten der oberen Behörde, ſondern ſtets von Seiten des Einzelnen, der ſie durch eine förmliche Klage gegen die Organe geltend machen muß. Das Beſchwerderecht iſt hier in das Klagrecht aufgegangen, und eine Unterſcheidung zwiſchen der Verordnung und

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/stein_verwaltungslehre04_1867
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/stein_verwaltungslehre04_1867/105
Zitationshilfe: Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 4. Stuttgart, 1867, S. 83. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stein_verwaltungslehre04_1867/105>, abgerufen am 06.05.2024.