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Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 2 (2,1). Stuttgart, 1866.

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Armenwesen durch. Das Mandat vom 11. April 1772 (Bitzer
S. 202) erneuert die Vorschriften von 1729, fordert aber zur Ansässig-
keit schon einen Aufenthalt von "drei letzten Jahren." Doch wird,
wir glauben hier zuerst in Deutschland das Zugeständniß gemacht,
daß die auf diese Weise gebildeten Armenverwaltungsgemeinden das
Recht haben sollen, "durch ihre Ortsobrigkeiten besondere bloß auf ihre
Stadt oder Gericht abzielende Armenordnungen zu errichten und der
Landesregierung zur Bestätigung vorzulegen." (Cod. August. I. Fort-
setzung, 1. Abth. S. 545. §. XIV.) Dazu dürfen schon seit 1772 ge-
meinschaftliche Armenkassen
errichtet werden, indem "entweder
jeder Ort für sich oder sämmtliche zu einem Gerichte gehörige Orte zu-
sammen
die einheimischen Armen versorgen" (Bitzer S. 203.) Aller-
dings behielt dabei die Obrigkeit nach dem Geiste der damaligen Zeit
immer die ausschließlich entscheidende Stimme, doch scheint die Verwal-
tung selbst eine sehr milde und verständige gewesen zu sein. Auf dieser
Basis bildet sich nun das gegenwärtige Recht nach zwei Richtungen, in
denen sich Sachsens Verwaltung vor allen andern deutschen auszeichnet.
Zuerst zeigt sich nämlich die in den obigen Grundsätzen bereits fest-
gestellte Scheidung der Armengemeinde von der Ortsgemeinde,
welche Sachsen charakterisirt, in einer Auffassung des Heimathwesens,
welche schon im Anfange dieses Jahrhunderts viel freisinniger und dem
wirthschaftlichen Bedürfnisse entsprechender ist, als in irgend einem
deutschen Staate. Schon die Entscheidungen auf die Vorstellungen des
Landtages von 1811 stellen den Grundsatz auf, daß "jedem die freie
Wahl zu lassen
sei, an welchem Orte im Lande er sich nähren oder
niederlassen wolle." Dieser Gedanke wird dann in dem gegenwärtig
geltenden Heimathsgesetz vom 26. November 1834 weiter aus-
geführt und hier zum erstenmale statt der "Gemeindeangehörigkeit" die
"Heimathsangehörigkeit" jedem Staatsangehörigen zur Pflicht, was
eben so rationell als das erstere irrationell erscheinen muß. Zwar ward
dann die Ortsgemeinde "in der Regel" als Heimaths- oder Armen-
gemeinde anerkannt, jedoch mit dem Rechte, sich für die Armenversorgung
einer andern anzuschließen (§. 3). So ist hier die Verwaltungsgemeinde
für das Armenwesen formell in die Gesetzgebung eingeführt, und das
Heimathsrecht eben einfach auf die Armenunterstützung zurückgeführt.
Der Erwerb dieses Heimathsrechts (oder der Armenzuständigkeit) ist
gleichfalls in Sachsen eigenthümlich. Es wird erworben als natür-
liche
Heimath durch Geburt, oder als gewerbliche Heimath durch
Wohnsitz und Bürgerrecht, oder durch obrigkeitliche Ertheilung
als administrative Heimath. Es scheint uns nach dem Ganzen, daß
die größere Freiheit der Bewegung eben wesentlich durch dieß alte

Armenweſen durch. Das Mandat vom 11. April 1772 (Bitzer
S. 202) erneuert die Vorſchriften von 1729, fordert aber zur Anſäſſig-
keit ſchon einen Aufenthalt von „drei letzten Jahren.“ Doch wird,
wir glauben hier zuerſt in Deutſchland das Zugeſtändniß gemacht,
daß die auf dieſe Weiſe gebildeten Armenverwaltungsgemeinden das
Recht haben ſollen, „durch ihre Ortsobrigkeiten beſondere bloß auf ihre
Stadt oder Gericht abzielende Armenordnungen zu errichten und der
Landesregierung zur Beſtätigung vorzulegen.“ (Cod. August. I. Fort-
ſetzung, 1. Abth. S. 545. §. XIV.) Dazu dürfen ſchon ſeit 1772 ge-
meinſchaftliche Armenkaſſen
errichtet werden, indem „entweder
jeder Ort für ſich oder ſämmtliche zu einem Gerichte gehörige Orte zu-
ſammen
die einheimiſchen Armen verſorgen“ (Bitzer S. 203.) Aller-
dings behielt dabei die Obrigkeit nach dem Geiſte der damaligen Zeit
immer die ausſchließlich entſcheidende Stimme, doch ſcheint die Verwal-
tung ſelbſt eine ſehr milde und verſtändige geweſen zu ſein. Auf dieſer
Baſis bildet ſich nun das gegenwärtige Recht nach zwei Richtungen, in
denen ſich Sachſens Verwaltung vor allen andern deutſchen auszeichnet.
Zuerſt zeigt ſich nämlich die in den obigen Grundſätzen bereits feſt-
geſtellte Scheidung der Armengemeinde von der Ortsgemeinde,
welche Sachſen charakteriſirt, in einer Auffaſſung des Heimathweſens,
welche ſchon im Anfange dieſes Jahrhunderts viel freiſinniger und dem
wirthſchaftlichen Bedürfniſſe entſprechender iſt, als in irgend einem
deutſchen Staate. Schon die Entſcheidungen auf die Vorſtellungen des
Landtages von 1811 ſtellen den Grundſatz auf, daß „jedem die freie
Wahl zu laſſen
ſei, an welchem Orte im Lande er ſich nähren oder
niederlaſſen wolle.“ Dieſer Gedanke wird dann in dem gegenwärtig
geltenden Heimathsgeſetz vom 26. November 1834 weiter aus-
geführt und hier zum erſtenmale ſtatt der „Gemeindeangehörigkeit“ die
„Heimathsangehörigkeit“ jedem Staatsangehörigen zur Pflicht, was
eben ſo rationell als das erſtere irrationell erſcheinen muß. Zwar ward
dann die Ortsgemeinde „in der Regel“ als Heimaths- oder Armen-
gemeinde anerkannt, jedoch mit dem Rechte, ſich für die Armenverſorgung
einer andern anzuſchließen (§. 3). So iſt hier die Verwaltungsgemeinde
für das Armenweſen formell in die Geſetzgebung eingeführt, und das
Heimathsrecht eben einfach auf die Armenunterſtützung zurückgeführt.
Der Erwerb dieſes Heimathsrechts (oder der Armenzuſtändigkeit) iſt
gleichfalls in Sachſen eigenthümlich. Es wird erworben als natür-
liche
Heimath durch Geburt, oder als gewerbliche Heimath durch
Wohnſitz und Bürgerrecht, oder durch obrigkeitliche Ertheilung
als adminiſtrative Heimath. Es ſcheint uns nach dem Ganzen, daß
die größere Freiheit der Bewegung eben weſentlich durch dieß alte

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[350/0372] Armenweſen durch. Das Mandat vom 11. April 1772 (Bitzer S. 202) erneuert die Vorſchriften von 1729, fordert aber zur Anſäſſig- keit ſchon einen Aufenthalt von „drei letzten Jahren.“ Doch wird, wir glauben hier zuerſt in Deutſchland das Zugeſtändniß gemacht, daß die auf dieſe Weiſe gebildeten Armenverwaltungsgemeinden das Recht haben ſollen, „durch ihre Ortsobrigkeiten beſondere bloß auf ihre Stadt oder Gericht abzielende Armenordnungen zu errichten und der Landesregierung zur Beſtätigung vorzulegen.“ (Cod. August. I. Fort- ſetzung, 1. Abth. S. 545. §. XIV.) Dazu dürfen ſchon ſeit 1772 ge- meinſchaftliche Armenkaſſen errichtet werden, indem „entweder jeder Ort für ſich oder ſämmtliche zu einem Gerichte gehörige Orte zu- ſammen die einheimiſchen Armen verſorgen“ (Bitzer S. 203.) Aller- dings behielt dabei die Obrigkeit nach dem Geiſte der damaligen Zeit immer die ausſchließlich entſcheidende Stimme, doch ſcheint die Verwal- tung ſelbſt eine ſehr milde und verſtändige geweſen zu ſein. Auf dieſer Baſis bildet ſich nun das gegenwärtige Recht nach zwei Richtungen, in denen ſich Sachſens Verwaltung vor allen andern deutſchen auszeichnet. Zuerſt zeigt ſich nämlich die in den obigen Grundſätzen bereits feſt- geſtellte Scheidung der Armengemeinde von der Ortsgemeinde, welche Sachſen charakteriſirt, in einer Auffaſſung des Heimathweſens, welche ſchon im Anfange dieſes Jahrhunderts viel freiſinniger und dem wirthſchaftlichen Bedürfniſſe entſprechender iſt, als in irgend einem deutſchen Staate. Schon die Entſcheidungen auf die Vorſtellungen des Landtages von 1811 ſtellen den Grundſatz auf, daß „jedem die freie Wahl zu laſſen ſei, an welchem Orte im Lande er ſich nähren oder niederlaſſen wolle.“ Dieſer Gedanke wird dann in dem gegenwärtig geltenden Heimathsgeſetz vom 26. November 1834 weiter aus- geführt und hier zum erſtenmale ſtatt der „Gemeindeangehörigkeit“ die „Heimathsangehörigkeit“ jedem Staatsangehörigen zur Pflicht, was eben ſo rationell als das erſtere irrationell erſcheinen muß. Zwar ward dann die Ortsgemeinde „in der Regel“ als Heimaths- oder Armen- gemeinde anerkannt, jedoch mit dem Rechte, ſich für die Armenverſorgung einer andern anzuſchließen (§. 3). So iſt hier die Verwaltungsgemeinde für das Armenweſen formell in die Geſetzgebung eingeführt, und das Heimathsrecht eben einfach auf die Armenunterſtützung zurückgeführt. Der Erwerb dieſes Heimathsrechts (oder der Armenzuſtändigkeit) iſt gleichfalls in Sachſen eigenthümlich. Es wird erworben als natür- liche Heimath durch Geburt, oder als gewerbliche Heimath durch Wohnſitz und Bürgerrecht, oder durch obrigkeitliche Ertheilung als adminiſtrative Heimath. Es ſcheint uns nach dem Ganzen, daß die größere Freiheit der Bewegung eben weſentlich durch dieß alte

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Zitationshilfe: Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 2 (2,1). Stuttgart, 1866, S. 350. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stein_verwaltungslehre02_1866/372>, abgerufen am 22.11.2024.