In diesen Zustand tritt die staatsbürgerliche Gesellschaft des neun- zehnten Jahrhunderts zunächst als Princip hinein. Sie wird nicht zur alleinherrschenden Thatsache wie in Frankreich; sie ist nur eine, wenn auch gewaltige Forderung der lebendigen Zeit. Es ist nicht möglich, sie ganz abzuweisen, ohne die edelsten Elemente der Entwicklung zu vernichten; es ist nicht möglich, sie zur vollen Geltung gelangen zu lassen, ohne das Recht und den Besitz der ständischen Elemente wie in Frankreich gewaltthätig zu brechen. Dennoch ist ein Fortschritt noth- wendig. Er geschieht, indem eine Ordnung gefunden wird, welche in Verfassung und Verwaltung beide Elemente in eigenthümlicher Weise verschmilzt, und damit ein System der Selbstverwaltung erschafft, das auf den ersten Blick als Uebergangszustand erscheint. Die Grundzüge dieses Zustandes sind bei aller formellen Verschiedenheit sich wesentlich in allen deutschen Staaten gleich; doch ist zwischen Norden und Süden der Unterschied am deutlichsten bemerkbar. Nur müssen wir, um das ganze System klar zu machen, einige bereits früher berührte Punkte wiederholen.
In der That nämlich ist in Deutschland zwar der Gedanke einer constitutionellen Verfassung auf Grundlage des Staatsbürgerthums weit genug fortgeschritten, aber es fehlt ihm der materielle Körper, das gewerbliche Kapital. Es wird für das innere Recht Deutschlands ent- scheidend, daß die Hauptform des Besitzes noch immer der Grundbesitz ist. Das Deutschland des Anfanges unseres Jahrhunderts ist bekanntlich gar nicht zu vergleichen mit dem gegenwärtigen. Handel und Industrie liegen darnieder, das Gewerbe ist unfrei; die persönliche Thätigkeit ist von engsten Schranken umgeben; alles was der Reichthum an materieller und geistiger Macht geben kann, ist daher in den Händen der Grund- herren. Eine Beseitigung ihrer Herrschaft, ja eine Zurückschiebung der- selben ist kaum denkbar. Das ist daher die thatsächliche Grundlage, auf welcher die neuen Verfassungen entstehen. Die gegebenen Verhält- nisse machen es fast unmöglich, etwas anderes zu thun, als die alten Landstände ins Leben zu rufen, und ihnen die Rechte der staats- bürgerlichen Volksvertretung zu übertragen. So beruhen dieselben in ihrer Zusammensetzung auf dem ständischen, in ihren Rechten auf dem staatsbürgerlichen Princip. Doch besteht dabei der Unterschied, daß im Norden das erste Element, im Süden das zweite vorwiegt. Allein im Süden wie im Norden entsteht nun die Frage nach dem Verhältniß des neuen Staatsbürgerthums zu der örtlichen Verwal- tung. In der landständischen Verfassung muß dieß Staatsbürgerthum dem ständischen Elemente um so mehr unterliegen, als das letztere fast allenthalben mit der Staatsverwaltung in engste Verbindung tritt. Es
In dieſen Zuſtand tritt die ſtaatsbürgerliche Geſellſchaft des neun- zehnten Jahrhunderts zunächſt als Princip hinein. Sie wird nicht zur alleinherrſchenden Thatſache wie in Frankreich; ſie iſt nur eine, wenn auch gewaltige Forderung der lebendigen Zeit. Es iſt nicht möglich, ſie ganz abzuweiſen, ohne die edelſten Elemente der Entwicklung zu vernichten; es iſt nicht möglich, ſie zur vollen Geltung gelangen zu laſſen, ohne das Recht und den Beſitz der ſtändiſchen Elemente wie in Frankreich gewaltthätig zu brechen. Dennoch iſt ein Fortſchritt noth- wendig. Er geſchieht, indem eine Ordnung gefunden wird, welche in Verfaſſung und Verwaltung beide Elemente in eigenthümlicher Weiſe verſchmilzt, und damit ein Syſtem der Selbſtverwaltung erſchafft, das auf den erſten Blick als Uebergangszuſtand erſcheint. Die Grundzüge dieſes Zuſtandes ſind bei aller formellen Verſchiedenheit ſich weſentlich in allen deutſchen Staaten gleich; doch iſt zwiſchen Norden und Süden der Unterſchied am deutlichſten bemerkbar. Nur müſſen wir, um das ganze Syſtem klar zu machen, einige bereits früher berührte Punkte wiederholen.
In der That nämlich iſt in Deutſchland zwar der Gedanke einer conſtitutionellen Verfaſſung auf Grundlage des Staatsbürgerthums weit genug fortgeſchritten, aber es fehlt ihm der materielle Körper, das gewerbliche Kapital. Es wird für das innere Recht Deutſchlands ent- ſcheidend, daß die Hauptform des Beſitzes noch immer der Grundbeſitz iſt. Das Deutſchland des Anfanges unſeres Jahrhunderts iſt bekanntlich gar nicht zu vergleichen mit dem gegenwärtigen. Handel und Induſtrie liegen darnieder, das Gewerbe iſt unfrei; die perſönliche Thätigkeit iſt von engſten Schranken umgeben; alles was der Reichthum an materieller und geiſtiger Macht geben kann, iſt daher in den Händen der Grund- herren. Eine Beſeitigung ihrer Herrſchaft, ja eine Zurückſchiebung der- ſelben iſt kaum denkbar. Das iſt daher die thatſächliche Grundlage, auf welcher die neuen Verfaſſungen entſtehen. Die gegebenen Verhält- niſſe machen es faſt unmöglich, etwas anderes zu thun, als die alten Landſtände ins Leben zu rufen, und ihnen die Rechte der ſtaats- bürgerlichen Volksvertretung zu übertragen. So beruhen dieſelben in ihrer Zuſammenſetzung auf dem ſtändiſchen, in ihren Rechten auf dem ſtaatsbürgerlichen Princip. Doch beſteht dabei der Unterſchied, daß im Norden das erſte Element, im Süden das zweite vorwiegt. Allein im Süden wie im Norden entſteht nun die Frage nach dem Verhältniß des neuen Staatsbürgerthums zu der örtlichen Verwal- tung. In der landſtändiſchen Verfaſſung muß dieß Staatsbürgerthum dem ſtändiſchen Elemente um ſo mehr unterliegen, als das letztere faſt allenthalben mit der Staatsverwaltung in engſte Verbindung tritt. Es
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In dieſen Zuſtand tritt die ſtaatsbürgerliche Geſellſchaft des neun-
zehnten Jahrhunderts zunächſt als Princip hinein. Sie wird nicht zur
alleinherrſchenden Thatſache wie in Frankreich; ſie iſt nur eine, wenn
auch gewaltige Forderung der lebendigen Zeit. Es iſt nicht möglich,
ſie ganz abzuweiſen, ohne die edelſten Elemente der Entwicklung zu
vernichten; es iſt nicht möglich, ſie zur vollen Geltung gelangen zu
laſſen, ohne das Recht und den Beſitz der ſtändiſchen Elemente wie in
Frankreich gewaltthätig zu brechen. Dennoch iſt ein Fortſchritt noth-
wendig. Er geſchieht, indem eine Ordnung gefunden wird, welche in
Verfaſſung und Verwaltung beide Elemente in eigenthümlicher Weiſe
verſchmilzt, und damit ein Syſtem der Selbſtverwaltung erſchafft, das
auf den erſten Blick als Uebergangszuſtand erſcheint. Die Grundzüge
dieſes Zuſtandes ſind bei aller formellen Verſchiedenheit ſich weſentlich
in allen deutſchen Staaten gleich; doch iſt zwiſchen Norden und Süden
der Unterſchied am deutlichſten bemerkbar. Nur müſſen wir, um das
ganze Syſtem klar zu machen, einige bereits früher berührte Punkte
wiederholen.
In der That nämlich iſt in Deutſchland zwar der Gedanke einer
conſtitutionellen Verfaſſung auf Grundlage des Staatsbürgerthums
weit genug fortgeſchritten, aber es fehlt ihm der materielle Körper, das
gewerbliche Kapital. Es wird für das innere Recht Deutſchlands ent-
ſcheidend, daß die Hauptform des Beſitzes noch immer der Grundbeſitz
iſt. Das Deutſchland des Anfanges unſeres Jahrhunderts iſt bekanntlich
gar nicht zu vergleichen mit dem gegenwärtigen. Handel und Induſtrie
liegen darnieder, das Gewerbe iſt unfrei; die perſönliche Thätigkeit iſt
von engſten Schranken umgeben; alles was der Reichthum an materieller
und geiſtiger Macht geben kann, iſt daher in den Händen der Grund-
herren. Eine Beſeitigung ihrer Herrſchaft, ja eine Zurückſchiebung der-
ſelben iſt kaum denkbar. Das iſt daher die thatſächliche Grundlage,
auf welcher die neuen Verfaſſungen entſtehen. Die gegebenen Verhält-
niſſe machen es faſt unmöglich, etwas anderes zu thun, als die alten
Landſtände ins Leben zu rufen, und ihnen die Rechte der ſtaats-
bürgerlichen Volksvertretung zu übertragen. So beruhen
dieſelben in ihrer Zuſammenſetzung auf dem ſtändiſchen, in ihren Rechten
auf dem ſtaatsbürgerlichen Princip. Doch beſteht dabei der Unterſchied,
daß im Norden das erſte Element, im Süden das zweite vorwiegt.
Allein im Süden wie im Norden entſteht nun die Frage nach dem
Verhältniß des neuen Staatsbürgerthums zu der örtlichen Verwal-
tung. In der landſtändiſchen Verfaſſung muß dieß Staatsbürgerthum
dem ſtändiſchen Elemente um ſo mehr unterliegen, als das letztere faſt
allenthalben mit der Staatsverwaltung in engſte Verbindung tritt. Es
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Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 1. Stuttgart, 1865, S. 490. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stein_verwaltungslehre01_1865/514>, abgerufen am 23.11.2024.
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