Frankreich aber als Funktion der amtlichen Organe mit dem Systeme der Conseils in zum Theil höchst zweckmäßiger Weise verbunden ist, erscheint sie in Deutschland fast ausschließlich als Aufgabe der staatlichen Verwaltung. So ist diese örtliche Selbstverwaltung Deutschlands eine höchst individuelle Gestaltung der letzteren. Die Elemente nun, welche sie dazu gemacht haben, sind historische. Aber diese Elemente sind wieder in den verschiedenen Ländern höchst verschieden gestaltet. Ein kräftiges einheitliches Leben hat es in Deutschland trotz aller Phrasen niemals gegeben. Jene Besonderheiten der einzelnen Länder haben sich daher vollkommen frei entwickeln können. Jeder Staat in Deutschland erscheint daher wieder mit seinem System der örtlichen Selbstverwal- tung. Jeder Staat hat wieder besondere Gesetze, oft auch besondere Principien, oft besondere Namen für das Gleiche, oft gleiche Namen für das Ungleiche. Dennoch ist die Grundlage eine gemeinschaftliche und gleichartige; alle diese Namen, Gestaltungen und Rechte sind zuletzt doch Kinder Einer Mutter, und das Gefühl, daß ein gemeinsames Ge- schick alle beherrscht und gemeinsame Thatsachen allen zum Grunde liegen, hat dieß Volk auch in seiner größten Zerfahrenheit und Unklar- heit niemals verlassen. Und so muß die Wissenschaft denn allerdings und mit vollem Rechte den Begriff einer deutschen örtlichen Selbst- verwaltung zum Grunde legen, und dabei versuchen, die mannichfachen Unterschiede auf gemeinsame Kategorien und Thatsachen zurückzuführen. Das ist das Ziel des folgenden Versuches.
Zu dem Ende ist es nothwendig, die Elemente der örtlichen Selbst- verwaltung des vorigen Jahrhunderts, die in Deutschland noch viel mehr als in Frankreich die Grundlage des gegenwärtigen Rechts bilden, ins Auge zu fassen.
Auch in Deutschland stand im vorigen Jahrhundert das System der ständischen Selbstverwaltung dem Systeme der staatlichen Verwal- tung gegenüber, wie wir es schon früher bezeichnet haben. Nur war ein großer Theil Deutschlands eben nichts anderes, als eine Menge zur Souveränetät gelangter Ortsgemeinden, theils adliche Herrschaften, theils geistliche Besitzungen, theils Städte. Jede dieser unmittelbaren Orts- gemeinden hat ihre eigene Verfassung; sie kommen vor der Hand für die Staatenbildung nicht in Betracht. Die größeren Territorien dagegen zeigen uns unter verschiedenen Namen im Grunde dieselben Kategorien. Der staat- liche Organismus erscheint in Landesregierung und Amtmannschaft, der Selbstverwaltungsorganismus in der Landschaft, der Stadtgemeinde und der Herrschaft. Ordnung und Recht der letzteren, obwohl vielfach von der amtlichen Verwaltung durchbrochen, sind dennoch historisch unzweifelhaft. Es ist das Bild der ausgeprägten ständischen Selbstverwaltung.
Frankreich aber als Funktion der amtlichen Organe mit dem Syſteme der Conseils in zum Theil höchſt zweckmäßiger Weiſe verbunden iſt, erſcheint ſie in Deutſchland faſt ausſchließlich als Aufgabe der ſtaatlichen Verwaltung. So iſt dieſe örtliche Selbſtverwaltung Deutſchlands eine höchſt individuelle Geſtaltung der letzteren. Die Elemente nun, welche ſie dazu gemacht haben, ſind hiſtoriſche. Aber dieſe Elemente ſind wieder in den verſchiedenen Ländern höchſt verſchieden geſtaltet. Ein kräftiges einheitliches Leben hat es in Deutſchland trotz aller Phraſen niemals gegeben. Jene Beſonderheiten der einzelnen Länder haben ſich daher vollkommen frei entwickeln können. Jeder Staat in Deutſchland erſcheint daher wieder mit ſeinem Syſtem der örtlichen Selbſtverwal- tung. Jeder Staat hat wieder beſondere Geſetze, oft auch beſondere Principien, oft beſondere Namen für das Gleiche, oft gleiche Namen für das Ungleiche. Dennoch iſt die Grundlage eine gemeinſchaftliche und gleichartige; alle dieſe Namen, Geſtaltungen und Rechte ſind zuletzt doch Kinder Einer Mutter, und das Gefühl, daß ein gemeinſames Ge- ſchick alle beherrſcht und gemeinſame Thatſachen allen zum Grunde liegen, hat dieß Volk auch in ſeiner größten Zerfahrenheit und Unklar- heit niemals verlaſſen. Und ſo muß die Wiſſenſchaft denn allerdings und mit vollem Rechte den Begriff einer deutſchen örtlichen Selbſt- verwaltung zum Grunde legen, und dabei verſuchen, die mannichfachen Unterſchiede auf gemeinſame Kategorien und Thatſachen zurückzuführen. Das iſt das Ziel des folgenden Verſuches.
Zu dem Ende iſt es nothwendig, die Elemente der örtlichen Selbſt- verwaltung des vorigen Jahrhunderts, die in Deutſchland noch viel mehr als in Frankreich die Grundlage des gegenwärtigen Rechts bilden, ins Auge zu faſſen.
Auch in Deutſchland ſtand im vorigen Jahrhundert das Syſtem der ſtändiſchen Selbſtverwaltung dem Syſteme der ſtaatlichen Verwal- tung gegenüber, wie wir es ſchon früher bezeichnet haben. Nur war ein großer Theil Deutſchlands eben nichts anderes, als eine Menge zur Souveränetät gelangter Ortsgemeinden, theils adliche Herrſchaften, theils geiſtliche Beſitzungen, theils Städte. Jede dieſer unmittelbaren Orts- gemeinden hat ihre eigene Verfaſſung; ſie kommen vor der Hand für die Staatenbildung nicht in Betracht. Die größeren Territorien dagegen zeigen uns unter verſchiedenen Namen im Grunde dieſelben Kategorien. Der ſtaat- liche Organismus erſcheint in Landesregierung und Amtmannſchaft, der Selbſtverwaltungsorganismus in der Landſchaft, der Stadtgemeinde und der Herrſchaft. Ordnung und Recht der letzteren, obwohl vielfach von der amtlichen Verwaltung durchbrochen, ſind dennoch hiſtoriſch unzweifelhaft. Es iſt das Bild der ausgeprägten ſtändiſchen Selbſtverwaltung.
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Frankreich aber als Funktion der amtlichen Organe mit dem Syſteme
der Conseils in zum Theil höchſt zweckmäßiger Weiſe verbunden iſt,
erſcheint ſie in Deutſchland faſt ausſchließlich als Aufgabe der ſtaatlichen
Verwaltung. So iſt dieſe örtliche Selbſtverwaltung Deutſchlands eine
höchſt individuelle Geſtaltung der letzteren. Die Elemente nun, welche
ſie dazu gemacht haben, ſind hiſtoriſche. Aber dieſe Elemente ſind
wieder in den verſchiedenen Ländern höchſt verſchieden geſtaltet. Ein
kräftiges einheitliches Leben hat es in Deutſchland trotz aller Phraſen
niemals gegeben. Jene Beſonderheiten der einzelnen Länder haben ſich
daher vollkommen frei entwickeln können. Jeder Staat in Deutſchland
erſcheint daher wieder mit ſeinem Syſtem der örtlichen Selbſtverwal-
tung. Jeder Staat hat wieder beſondere Geſetze, oft auch beſondere
Principien, oft beſondere Namen für das Gleiche, oft gleiche Namen
für das Ungleiche. Dennoch iſt die Grundlage eine gemeinſchaftliche
und gleichartige; alle dieſe Namen, Geſtaltungen und Rechte ſind zuletzt
doch Kinder Einer Mutter, und das Gefühl, daß ein gemeinſames Ge-
ſchick alle beherrſcht und gemeinſame Thatſachen allen zum Grunde
liegen, hat dieß Volk auch in ſeiner größten Zerfahrenheit und Unklar-
heit niemals verlaſſen. Und ſo muß die Wiſſenſchaft denn allerdings
und mit vollem Rechte den Begriff einer deutſchen örtlichen Selbſt-
verwaltung zum Grunde legen, und dabei verſuchen, die mannichfachen
Unterſchiede auf gemeinſame Kategorien und Thatſachen zurückzuführen.
Das iſt das Ziel des folgenden Verſuches.
Zu dem Ende iſt es nothwendig, die Elemente der örtlichen Selbſt-
verwaltung des vorigen Jahrhunderts, die in Deutſchland noch viel
mehr als in Frankreich die Grundlage des gegenwärtigen Rechts bilden,
ins Auge zu faſſen.
Auch in Deutſchland ſtand im vorigen Jahrhundert das Syſtem
der ſtändiſchen Selbſtverwaltung dem Syſteme der ſtaatlichen Verwal-
tung gegenüber, wie wir es ſchon früher bezeichnet haben. Nur war
ein großer Theil Deutſchlands eben nichts anderes, als eine Menge zur
Souveränetät gelangter Ortsgemeinden, theils adliche Herrſchaften, theils
geiſtliche Beſitzungen, theils Städte. Jede dieſer unmittelbaren Orts-
gemeinden hat ihre eigene Verfaſſung; ſie kommen vor der Hand für die
Staatenbildung nicht in Betracht. Die größeren Territorien dagegen zeigen
uns unter verſchiedenen Namen im Grunde dieſelben Kategorien. Der ſtaat-
liche Organismus erſcheint in Landesregierung und Amtmannſchaft, der
Selbſtverwaltungsorganismus in der Landſchaft, der Stadtgemeinde und
der Herrſchaft. Ordnung und Recht der letzteren, obwohl vielfach von der
amtlichen Verwaltung durchbrochen, ſind dennoch hiſtoriſch unzweifelhaft.
Es iſt das Bild der ausgeprägten ſtändiſchen Selbſtverwaltung.
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Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 1. Stuttgart, 1865, S. 489. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stein_verwaltungslehre01_1865/513>, abgerufen am 22.11.2024.
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