Folgenden ergeben werden, haben uns nicht zum Bewußtsein des deut- schen gegenwärtig gültigen Rechts der Selbstverwaltung gelangen lassen. Und dennoch ist dasselbe nicht bloß viel reicher wie das französische und selbst das englische, sondern in vieler Beziehung auch weiter fortge- schritten. Nirgends ist Deutschland individueller gestaltet als in seiner örtlichen Selbstverwaltung; aber nirgends ist es auch unfertiger. Und das erscheint am besten, indem man die Verhältnisse desselben zuerst auf die drei obigen Kategorien zurückführt, den Kreis, die Ver- waltungsgemeinde und die Ortsgemeinde, und dann das staatliche und das gesellschaftliche Element in seinem Einfluß auf die Verfassung und Verwaltung derselben bestimmt. Während darnach Englands örtliche Selbstverwaltung ihren Schwerpunkt in der Verwaltungsgemeinde und ihrer juristischen und administrativen Selbständigkeit hat, Frankreich dagegen die Verwaltungsgemeinde fast ganz beseitigt, und die örtliche Selbstverwaltung nur noch in der Beschlußfähigkeit der örtlichen Räthe erhält, liegt in Deutschland das Hauptgewicht der örtlichen Selbstver- waltung in der Ortsgemeinde. Während ferner in England das Ge- meindebürgerthum auf dem Grundbesitze ruht, in Frankreich auf der staatssteuerbaren Persönlichkeit, erscheinen dagegen in Deutschland noch streng geschieden die großen Gruppen und Rechte des ständischen und des staatsbürgerlichen Gemeindebürgerthums. Während daher England keinen wesentlichen Unterschied zwischen Stadt- und Landgemeinde an- erkennt, und Frankreich gar keinen, ist der Unterschied beider eins der großen Principien des deutschen Gemeindewesens, denn die Stadt er- scheint als die Gemeinde der staatsbürgerlichen Gesellschaft, das Land als die Gemeinde der Reste der Geschlechts- und ständischen Ordnung. Während daher England zwischen seiner örtlichen Selbstverwaltung und der Staatsverwaltung kein anderes Mittelglied hat, als das des bür- gerlichen und criminellen Gerichts, und Frankreich mit der untersten Stufe der Selbstverwaltung, der Gemeinden, auch alle Mittelstufen einfach in den mechanischen Amtsorganismus des Departements auf- nimmt, hat Deutschlands örtliche Selbstverwaltung höchst eigenthümliche Mittelorgane, die in den bei weitem meisten Fällen nur dazu bestimmt sind, dem von der Ortsgemeinde bewältigten, aber von ihm abgeschie- denen ständischen Elemente einen selbständigen Antheil an der Selbst- verwaltung zu geben. Eben diese strenge Verbindung mit dem örtlichen Recht und der örtlichen Gestalt der deutschen Selbstverwaltung, die meist auf geschichtlichen Gründen beruht, hat es schließlich bewirkt, daß in Deutschland, trotz seines Princips der Selbstverwaltung doch keine Entwicklung der Verwaltungsgemeinde stattgefunden hat; während die- selbe in England ganz selbständig dem Selfgovernment überlassen, in
Folgenden ergeben werden, haben uns nicht zum Bewußtſein des deut- ſchen gegenwärtig gültigen Rechts der Selbſtverwaltung gelangen laſſen. Und dennoch iſt daſſelbe nicht bloß viel reicher wie das franzöſiſche und ſelbſt das engliſche, ſondern in vieler Beziehung auch weiter fortge- ſchritten. Nirgends iſt Deutſchland individueller geſtaltet als in ſeiner örtlichen Selbſtverwaltung; aber nirgends iſt es auch unfertiger. Und das erſcheint am beſten, indem man die Verhältniſſe deſſelben zuerſt auf die drei obigen Kategorien zurückführt, den Kreis, die Ver- waltungsgemeinde und die Ortsgemeinde, und dann das ſtaatliche und das geſellſchaftliche Element in ſeinem Einfluß auf die Verfaſſung und Verwaltung derſelben beſtimmt. Während darnach Englands örtliche Selbſtverwaltung ihren Schwerpunkt in der Verwaltungsgemeinde und ihrer juriſtiſchen und adminiſtrativen Selbſtändigkeit hat, Frankreich dagegen die Verwaltungsgemeinde faſt ganz beſeitigt, und die örtliche Selbſtverwaltung nur noch in der Beſchlußfähigkeit der örtlichen Räthe erhält, liegt in Deutſchland das Hauptgewicht der örtlichen Selbſtver- waltung in der Ortsgemeinde. Während ferner in England das Ge- meindebürgerthum auf dem Grundbeſitze ruht, in Frankreich auf der ſtaatsſteuerbaren Perſönlichkeit, erſcheinen dagegen in Deutſchland noch ſtreng geſchieden die großen Gruppen und Rechte des ſtändiſchen und des ſtaatsbürgerlichen Gemeindebürgerthums. Während daher England keinen weſentlichen Unterſchied zwiſchen Stadt- und Landgemeinde an- erkennt, und Frankreich gar keinen, iſt der Unterſchied beider eins der großen Principien des deutſchen Gemeindeweſens, denn die Stadt er- ſcheint als die Gemeinde der ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaft, das Land als die Gemeinde der Reſte der Geſchlechts- und ſtändiſchen Ordnung. Während daher England zwiſchen ſeiner örtlichen Selbſtverwaltung und der Staatsverwaltung kein anderes Mittelglied hat, als das des bür- gerlichen und criminellen Gerichts, und Frankreich mit der unterſten Stufe der Selbſtverwaltung, der Gemeinden, auch alle Mittelſtufen einfach in den mechaniſchen Amtsorganismus des Departements auf- nimmt, hat Deutſchlands örtliche Selbſtverwaltung höchſt eigenthümliche Mittelorgane, die in den bei weitem meiſten Fällen nur dazu beſtimmt ſind, dem von der Ortsgemeinde bewältigten, aber von ihm abgeſchie- denen ſtändiſchen Elemente einen ſelbſtändigen Antheil an der Selbſt- verwaltung zu geben. Eben dieſe ſtrenge Verbindung mit dem örtlichen Recht und der örtlichen Geſtalt der deutſchen Selbſtverwaltung, die meiſt auf geſchichtlichen Gründen beruht, hat es ſchließlich bewirkt, daß in Deutſchland, trotz ſeines Princips der Selbſtverwaltung doch keine Entwicklung der Verwaltungsgemeinde ſtattgefunden hat; während die- ſelbe in England ganz ſelbſtändig dem Selfgovernment überlaſſen, in
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Folgenden ergeben werden, haben uns nicht zum Bewußtſein des deut-
ſchen gegenwärtig gültigen Rechts der Selbſtverwaltung gelangen laſſen.
Und dennoch iſt daſſelbe nicht bloß viel reicher wie das franzöſiſche und
ſelbſt das engliſche, ſondern in vieler Beziehung auch weiter fortge-
ſchritten. Nirgends iſt Deutſchland individueller geſtaltet als in ſeiner
örtlichen Selbſtverwaltung; aber nirgends iſt es auch unfertiger.
Und das erſcheint am beſten, indem man die Verhältniſſe deſſelben
zuerſt auf die drei obigen Kategorien zurückführt, den Kreis, die Ver-
waltungsgemeinde und die Ortsgemeinde, und dann das ſtaatliche und
das geſellſchaftliche Element in ſeinem Einfluß auf die Verfaſſung und
Verwaltung derſelben beſtimmt. Während darnach Englands örtliche
Selbſtverwaltung ihren Schwerpunkt in der Verwaltungsgemeinde und
ihrer juriſtiſchen und adminiſtrativen Selbſtändigkeit hat, Frankreich
dagegen die Verwaltungsgemeinde faſt ganz beſeitigt, und die örtliche
Selbſtverwaltung nur noch in der Beſchlußfähigkeit der örtlichen Räthe
erhält, liegt in Deutſchland das Hauptgewicht der örtlichen Selbſtver-
waltung in der Ortsgemeinde. Während ferner in England das Ge-
meindebürgerthum auf dem Grundbeſitze ruht, in Frankreich auf der
ſtaatsſteuerbaren Perſönlichkeit, erſcheinen dagegen in Deutſchland noch
ſtreng geſchieden die großen Gruppen und Rechte des ſtändiſchen und
des ſtaatsbürgerlichen Gemeindebürgerthums. Während daher England
keinen weſentlichen Unterſchied zwiſchen Stadt- und Landgemeinde an-
erkennt, und Frankreich gar keinen, iſt der Unterſchied beider eins der
großen Principien des deutſchen Gemeindeweſens, denn die Stadt er-
ſcheint als die Gemeinde der ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaft, das Land
als die Gemeinde der Reſte der Geſchlechts- und ſtändiſchen Ordnung.
Während daher England zwiſchen ſeiner örtlichen Selbſtverwaltung und
der Staatsverwaltung kein anderes Mittelglied hat, als das des bür-
gerlichen und criminellen Gerichts, und Frankreich mit der unterſten
Stufe der Selbſtverwaltung, der Gemeinden, auch alle Mittelſtufen
einfach in den mechaniſchen Amtsorganismus des Departements auf-
nimmt, hat Deutſchlands örtliche Selbſtverwaltung höchſt eigenthümliche
Mittelorgane, die in den bei weitem meiſten Fällen nur dazu beſtimmt
ſind, dem von der Ortsgemeinde bewältigten, aber von ihm abgeſchie-
denen ſtändiſchen Elemente einen ſelbſtändigen Antheil an der Selbſt-
verwaltung zu geben. Eben dieſe ſtrenge Verbindung mit dem örtlichen
Recht und der örtlichen Geſtalt der deutſchen Selbſtverwaltung, die
meiſt auf geſchichtlichen Gründen beruht, hat es ſchließlich bewirkt, daß
in Deutſchland, trotz ſeines Princips der Selbſtverwaltung doch keine
Entwicklung der Verwaltungsgemeinde ſtattgefunden hat; während die-
ſelbe in England ganz ſelbſtändig dem Selfgovernment überlaſſen, in
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Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 1. Stuttgart, 1865, S. 488. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stein_verwaltungslehre01_1865/512>, abgerufen am 22.11.2024.
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