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Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 1. Stuttgart, 1865.

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letztere dem erstern im Interesse des Gemeinrechts auferlegt. Das erste
Recht verdient den Namen des reinen bürgerlichen Rechts. Da aber
nun im Allgemeinen die Gesammtheit der concreten Thätigkeiten des
Staats, durch welche derselbe mit seinen Gesetzen oder mit ihrer Voll-
ziehung dieß Gemeinwohl fördert oder schützt, die Verwaltung genannt
wird, so nennen wir die letztere Gruppe von Rechtsbestimmungen, weil
sie die Gesammtheit der Modifikationen des reinen bürgerlichen Rechts
durch die Anwendung des höchsten Princips der Verwaltung enthalten,
am besten das bürgerliche Verwaltungsrecht.

Diese beiden Seiten des bürgerlichen Rechts sind nun nicht bloß
in ihrer Definition, sondern auch in ihrem Principe sehr wesentlich von
einander verschieden.

Das reine bürgerliche Recht nämlich beruht auf dem Wesen der
vollkommenen freien Selbstbestimmung der Einzelnen. Es ist daher in
allen seinen Punkten nichts als die Consequenz des Begriffes der selbst-
thätigen und unverletzlichen Persönlichkeit in ihrer Berührung mit der
äußern Lebenssphäre der andern Persönlichkeit; und zwar so, daß diese
Consequenz durch die Gesammtheit aller Lebensverhältnisse der Einzelnen
durchgeführt wird. Eben darum, weil diese Grundlage, die selbständige
Thätigkeit der Einzelnen eine unveränderlich im Wesen der Persönlichkeit
selbst liegende ist, haben alle diese daraus folgenden Rechtssätze, oder
das rein bürgerliche Recht, das Princip der Unveränderlichkeit zu
allen Zeiten und bei allen Völkern gehabt. Alle Grundsätze, welche
diesen Charakter tragen, bilden eben das rein bürgerliche Recht in
allen Gesetzgebungen. Und wegen ihrer an sich so einfachen Grund-
lage lassen sie sich auch auf zwei sehr einfache, oberste Rechtssätze zurück-
führen, so daß alle Bestimmungen, welcher Art sie auch im rein bürger-
lichen Rechte sein mögen, immer nur als Folgerungen und spezielle
Anwendung jener unveränderlichen Rechtssätze erscheinen. Diese nun
sind die Unverletzlichkeit der gesammten äußern Lebenssphäre der einen
Persönlichkeit durch den andern Einzelnen, die man auch einfach als
das Princip des Eigenthumsrechts bezeichnen kann, und zweitens die
Unverletzlichkeit des gültig abgeschlossenen Vertrages durch den Einzel-
willen, das Princip des Verkehrsrechts. Es ist Aufgabe der Rechts-
wissenschaft, diese einfachen obersten Rechtsprincipien zu einem System
von Rechtssätzen zu entwickeln; hier muß es genügen, sie in ihrem selbst-
bedingten Inhalt hingestellt zu haben.

Wesentlich anders ist dagegen das höchste Princip desjenigen Rechts,
welches wir als das bürgerliche Verwaltungsrecht bezeichnet haben. Die
Beschränkungen der freien Individualität nicht bloß in ihrem Verhält-
niß zum Staate, sondern auch in ihrem Verhältniß zur andern freien

letztere dem erſtern im Intereſſe des Gemeinrechts auferlegt. Das erſte
Recht verdient den Namen des reinen bürgerlichen Rechts. Da aber
nun im Allgemeinen die Geſammtheit der concreten Thätigkeiten des
Staats, durch welche derſelbe mit ſeinen Geſetzen oder mit ihrer Voll-
ziehung dieß Gemeinwohl fördert oder ſchützt, die Verwaltung genannt
wird, ſo nennen wir die letztere Gruppe von Rechtsbeſtimmungen, weil
ſie die Geſammtheit der Modifikationen des reinen bürgerlichen Rechts
durch die Anwendung des höchſten Princips der Verwaltung enthalten,
am beſten das bürgerliche Verwaltungsrecht.

Dieſe beiden Seiten des bürgerlichen Rechts ſind nun nicht bloß
in ihrer Definition, ſondern auch in ihrem Principe ſehr weſentlich von
einander verſchieden.

Das reine bürgerliche Recht nämlich beruht auf dem Weſen der
vollkommenen freien Selbſtbeſtimmung der Einzelnen. Es iſt daher in
allen ſeinen Punkten nichts als die Conſequenz des Begriffes der ſelbſt-
thätigen und unverletzlichen Perſönlichkeit in ihrer Berührung mit der
äußern Lebensſphäre der andern Perſönlichkeit; und zwar ſo, daß dieſe
Conſequenz durch die Geſammtheit aller Lebensverhältniſſe der Einzelnen
durchgeführt wird. Eben darum, weil dieſe Grundlage, die ſelbſtändige
Thätigkeit der Einzelnen eine unveränderlich im Weſen der Perſönlichkeit
ſelbſt liegende iſt, haben alle dieſe daraus folgenden Rechtsſätze, oder
das rein bürgerliche Recht, das Princip der Unveränderlichkeit zu
allen Zeiten und bei allen Völkern gehabt. Alle Grundſätze, welche
dieſen Charakter tragen, bilden eben das rein bürgerliche Recht in
allen Geſetzgebungen. Und wegen ihrer an ſich ſo einfachen Grund-
lage laſſen ſie ſich auch auf zwei ſehr einfache, oberſte Rechtsſätze zurück-
führen, ſo daß alle Beſtimmungen, welcher Art ſie auch im rein bürger-
lichen Rechte ſein mögen, immer nur als Folgerungen und ſpezielle
Anwendung jener unveränderlichen Rechtsſätze erſcheinen. Dieſe nun
ſind die Unverletzlichkeit der geſammten äußern Lebensſphäre der einen
Perſönlichkeit durch den andern Einzelnen, die man auch einfach als
das Princip des Eigenthumsrechts bezeichnen kann, und zweitens die
Unverletzlichkeit des gültig abgeſchloſſenen Vertrages durch den Einzel-
willen, das Princip des Verkehrsrechts. Es iſt Aufgabe der Rechts-
wiſſenſchaft, dieſe einfachen oberſten Rechtsprincipien zu einem Syſtem
von Rechtsſätzen zu entwickeln; hier muß es genügen, ſie in ihrem ſelbſt-
bedingten Inhalt hingeſtellt zu haben.

Weſentlich anders iſt dagegen das höchſte Princip desjenigen Rechts,
welches wir als das bürgerliche Verwaltungsrecht bezeichnet haben. Die
Beſchränkungen der freien Individualität nicht bloß in ihrem Verhält-
niß zum Staate, ſondern auch in ihrem Verhältniß zur andern freien

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[214/0238] letztere dem erſtern im Intereſſe des Gemeinrechts auferlegt. Das erſte Recht verdient den Namen des reinen bürgerlichen Rechts. Da aber nun im Allgemeinen die Geſammtheit der concreten Thätigkeiten des Staats, durch welche derſelbe mit ſeinen Geſetzen oder mit ihrer Voll- ziehung dieß Gemeinwohl fördert oder ſchützt, die Verwaltung genannt wird, ſo nennen wir die letztere Gruppe von Rechtsbeſtimmungen, weil ſie die Geſammtheit der Modifikationen des reinen bürgerlichen Rechts durch die Anwendung des höchſten Princips der Verwaltung enthalten, am beſten das bürgerliche Verwaltungsrecht. Dieſe beiden Seiten des bürgerlichen Rechts ſind nun nicht bloß in ihrer Definition, ſondern auch in ihrem Principe ſehr weſentlich von einander verſchieden. Das reine bürgerliche Recht nämlich beruht auf dem Weſen der vollkommenen freien Selbſtbeſtimmung der Einzelnen. Es iſt daher in allen ſeinen Punkten nichts als die Conſequenz des Begriffes der ſelbſt- thätigen und unverletzlichen Perſönlichkeit in ihrer Berührung mit der äußern Lebensſphäre der andern Perſönlichkeit; und zwar ſo, daß dieſe Conſequenz durch die Geſammtheit aller Lebensverhältniſſe der Einzelnen durchgeführt wird. Eben darum, weil dieſe Grundlage, die ſelbſtändige Thätigkeit der Einzelnen eine unveränderlich im Weſen der Perſönlichkeit ſelbſt liegende iſt, haben alle dieſe daraus folgenden Rechtsſätze, oder das rein bürgerliche Recht, das Princip der Unveränderlichkeit zu allen Zeiten und bei allen Völkern gehabt. Alle Grundſätze, welche dieſen Charakter tragen, bilden eben das rein bürgerliche Recht in allen Geſetzgebungen. Und wegen ihrer an ſich ſo einfachen Grund- lage laſſen ſie ſich auch auf zwei ſehr einfache, oberſte Rechtsſätze zurück- führen, ſo daß alle Beſtimmungen, welcher Art ſie auch im rein bürger- lichen Rechte ſein mögen, immer nur als Folgerungen und ſpezielle Anwendung jener unveränderlichen Rechtsſätze erſcheinen. Dieſe nun ſind die Unverletzlichkeit der geſammten äußern Lebensſphäre der einen Perſönlichkeit durch den andern Einzelnen, die man auch einfach als das Princip des Eigenthumsrechts bezeichnen kann, und zweitens die Unverletzlichkeit des gültig abgeſchloſſenen Vertrages durch den Einzel- willen, das Princip des Verkehrsrechts. Es iſt Aufgabe der Rechts- wiſſenſchaft, dieſe einfachen oberſten Rechtsprincipien zu einem Syſtem von Rechtsſätzen zu entwickeln; hier muß es genügen, ſie in ihrem ſelbſt- bedingten Inhalt hingeſtellt zu haben. Weſentlich anders iſt dagegen das höchſte Princip desjenigen Rechts, welches wir als das bürgerliche Verwaltungsrecht bezeichnet haben. Die Beſchränkungen der freien Individualität nicht bloß in ihrem Verhält- niß zum Staate, ſondern auch in ihrem Verhältniß zur andern freien

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Zitationshilfe: Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 1. Stuttgart, 1865, S. 214. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stein_verwaltungslehre01_1865/238>, abgerufen am 26.04.2024.