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Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 1. Stuttgart, 1865.

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Einerseits ist der Einzelne ein Glied des Ganzen; und es ist kein
Zweifel, daß dadurch die Selbständigkeit desselben beschränkt wird. Die
Gesammtheit der dadurch entstehenden Rechtsverhältnisse nennt man das
öffentliche Recht.

Andererseits ist er eine selbständige Persönlichkeit, und tritt als
solche in Verkehr mit der andern einzelnen Persönlichkeit. In diesem
Verkehre nun erscheint grundsätzlich der freie Wille der beiden Persön-
lichkeiten als allein bestimmend für ihr gegenseitiges Verhältniß. Diese
Selbstbestimmung erzeugt das gegenseitig für sie geltende Recht; und
dieß Recht, indem er seinen Inhalt eben aus diesem Willen der freien
Staatsbürger empfängt, nennen wir das bürgerliche Recht.

Nun aber sind diese beiden Lebensgebiete nicht streng geschieden.
Sie greifen vielmehr auf allen Punkten in einander. Das Leben des
Staats hat an und für sich den Verkehr und die Verträge der Einzelnen
zu seinem Inhalt. Das kommt dadurch zur Erscheinung, daß diese an
sich freien Akte des Einzelverkehrs wieder in mannigfachster Weise in
die Lebensverhältnisse Dritter hineingreifen, die an demselben keinen
Theil genommen. Diese Dritten können daher durch die Handlungen
der Einzelnen in ihren Verhältnissen bestimmt und gefährdet werden,
ohne ihre Zustimmung, ja ohne ihr Wissen. Die Gränzen dieser Ein-
wirkung lassen sich nicht einfach bemessen. Sie sind vielmehr Thatsachen
des Gesammtlebens; und die an sich ganz freie und selbständige Hand-
lung der Einzelnen innerhalb des rein bürgerlichen Rechts empfängt
dadurch ein zweites inwohnendes Element, durch welches sie selbst in
einer, näher zu bestimmenden Vollziehung als Glied und Theil des
Lebens der menschlichen Einheit der ersten Forderung unterliegen,
welche dem Einzelnen überhaupt entgegentritt -- der Modifikation der
individuellen Selbstbestimmung und Freiheit nach den Anforderungen
des Lebens der Gemeinschaft.

So entstehen wiederum auch innerhalb der an sich ganz freien
Lebenssphäre des Individuums in seinem Verkehre mit dem andern zwei
wesentlich verschiedene Grundverhältnisse. Das eine behält jenen Cha-
rakter der vollen und unbeschränkten persönlichen Selbstbestimmung; das
andere dagegen erscheint, obwohl es ebenfalls aus derselben hervorgeht,
dennoch auf allen Punkten bestimmt und begränzt durch die in ihm
liegende Möglichkeit, auf die Lebensverhältnisse Dritter unmittelbar ein-
zuwirken. Dem entsprechend zeigt nun auch das bürgerliche Recht zwei
große Gebiete. Einerseits ist es das Recht, dessen Inhalt nur von
dem Willen des Einzelnen im Einzelverkehr gesetzt ist; andererseits ist es
das Recht, welches aus jener Berührung des letztern mit dem Leben
der Gesammtheit und aus den Beschränkungen erzeugt wird, welche das

Einerſeits iſt der Einzelne ein Glied des Ganzen; und es iſt kein
Zweifel, daß dadurch die Selbſtändigkeit deſſelben beſchränkt wird. Die
Geſammtheit der dadurch entſtehenden Rechtsverhältniſſe nennt man das
öffentliche Recht.

Andererſeits iſt er eine ſelbſtändige Perſönlichkeit, und tritt als
ſolche in Verkehr mit der andern einzelnen Perſönlichkeit. In dieſem
Verkehre nun erſcheint grundſätzlich der freie Wille der beiden Perſön-
lichkeiten als allein beſtimmend für ihr gegenſeitiges Verhältniß. Dieſe
Selbſtbeſtimmung erzeugt das gegenſeitig für ſie geltende Recht; und
dieß Recht, indem er ſeinen Inhalt eben aus dieſem Willen der freien
Staatsbürger empfängt, nennen wir das bürgerliche Recht.

Nun aber ſind dieſe beiden Lebensgebiete nicht ſtreng geſchieden.
Sie greifen vielmehr auf allen Punkten in einander. Das Leben des
Staats hat an und für ſich den Verkehr und die Verträge der Einzelnen
zu ſeinem Inhalt. Das kommt dadurch zur Erſcheinung, daß dieſe an
ſich freien Akte des Einzelverkehrs wieder in mannigfachſter Weiſe in
die Lebensverhältniſſe Dritter hineingreifen, die an demſelben keinen
Theil genommen. Dieſe Dritten können daher durch die Handlungen
der Einzelnen in ihren Verhältniſſen beſtimmt und gefährdet werden,
ohne ihre Zuſtimmung, ja ohne ihr Wiſſen. Die Gränzen dieſer Ein-
wirkung laſſen ſich nicht einfach bemeſſen. Sie ſind vielmehr Thatſachen
des Geſammtlebens; und die an ſich ganz freie und ſelbſtändige Hand-
lung der Einzelnen innerhalb des rein bürgerlichen Rechts empfängt
dadurch ein zweites inwohnendes Element, durch welches ſie ſelbſt in
einer, näher zu beſtimmenden Vollziehung als Glied und Theil des
Lebens der menſchlichen Einheit der erſten Forderung unterliegen,
welche dem Einzelnen überhaupt entgegentritt — der Modifikation der
individuellen Selbſtbeſtimmung und Freiheit nach den Anforderungen
des Lebens der Gemeinſchaft.

So entſtehen wiederum auch innerhalb der an ſich ganz freien
Lebensſphäre des Individuums in ſeinem Verkehre mit dem andern zwei
weſentlich verſchiedene Grundverhältniſſe. Das eine behält jenen Cha-
rakter der vollen und unbeſchränkten perſönlichen Selbſtbeſtimmung; das
andere dagegen erſcheint, obwohl es ebenfalls aus derſelben hervorgeht,
dennoch auf allen Punkten beſtimmt und begränzt durch die in ihm
liegende Möglichkeit, auf die Lebensverhältniſſe Dritter unmittelbar ein-
zuwirken. Dem entſprechend zeigt nun auch das bürgerliche Recht zwei
große Gebiete. Einerſeits iſt es das Recht, deſſen Inhalt nur von
dem Willen des Einzelnen im Einzelverkehr geſetzt iſt; andererſeits iſt es
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[213/0237] Einerſeits iſt der Einzelne ein Glied des Ganzen; und es iſt kein Zweifel, daß dadurch die Selbſtändigkeit deſſelben beſchränkt wird. Die Geſammtheit der dadurch entſtehenden Rechtsverhältniſſe nennt man das öffentliche Recht. Andererſeits iſt er eine ſelbſtändige Perſönlichkeit, und tritt als ſolche in Verkehr mit der andern einzelnen Perſönlichkeit. In dieſem Verkehre nun erſcheint grundſätzlich der freie Wille der beiden Perſön- lichkeiten als allein beſtimmend für ihr gegenſeitiges Verhältniß. Dieſe Selbſtbeſtimmung erzeugt das gegenſeitig für ſie geltende Recht; und dieß Recht, indem er ſeinen Inhalt eben aus dieſem Willen der freien Staatsbürger empfängt, nennen wir das bürgerliche Recht. Nun aber ſind dieſe beiden Lebensgebiete nicht ſtreng geſchieden. Sie greifen vielmehr auf allen Punkten in einander. Das Leben des Staats hat an und für ſich den Verkehr und die Verträge der Einzelnen zu ſeinem Inhalt. Das kommt dadurch zur Erſcheinung, daß dieſe an ſich freien Akte des Einzelverkehrs wieder in mannigfachſter Weiſe in die Lebensverhältniſſe Dritter hineingreifen, die an demſelben keinen Theil genommen. Dieſe Dritten können daher durch die Handlungen der Einzelnen in ihren Verhältniſſen beſtimmt und gefährdet werden, ohne ihre Zuſtimmung, ja ohne ihr Wiſſen. Die Gränzen dieſer Ein- wirkung laſſen ſich nicht einfach bemeſſen. Sie ſind vielmehr Thatſachen des Geſammtlebens; und die an ſich ganz freie und ſelbſtändige Hand- lung der Einzelnen innerhalb des rein bürgerlichen Rechts empfängt dadurch ein zweites inwohnendes Element, durch welches ſie ſelbſt in einer, näher zu beſtimmenden Vollziehung als Glied und Theil des Lebens der menſchlichen Einheit der erſten Forderung unterliegen, welche dem Einzelnen überhaupt entgegentritt — der Modifikation der individuellen Selbſtbeſtimmung und Freiheit nach den Anforderungen des Lebens der Gemeinſchaft. So entſtehen wiederum auch innerhalb der an ſich ganz freien Lebensſphäre des Individuums in ſeinem Verkehre mit dem andern zwei weſentlich verſchiedene Grundverhältniſſe. Das eine behält jenen Cha- rakter der vollen und unbeſchränkten perſönlichen Selbſtbeſtimmung; das andere dagegen erſcheint, obwohl es ebenfalls aus derſelben hervorgeht, dennoch auf allen Punkten beſtimmt und begränzt durch die in ihm liegende Möglichkeit, auf die Lebensverhältniſſe Dritter unmittelbar ein- zuwirken. Dem entſprechend zeigt nun auch das bürgerliche Recht zwei große Gebiete. Einerſeits iſt es das Recht, deſſen Inhalt nur von dem Willen des Einzelnen im Einzelverkehr geſetzt iſt; andererſeits iſt es das Recht, welches aus jener Berührung des letztern mit dem Leben der Geſammtheit und aus den Beſchränkungen erzeugt wird, welche das

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Zitationshilfe: Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 1. Stuttgart, 1865, S. 213. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stein_verwaltungslehre01_1865/237>, abgerufen am 20.04.2024.