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Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 1. Stuttgart, 1865.

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dem Einzelnen Streit hatte, das Gericht zuständig sei. Der Gedanke
des französischen droit administratif tritt daher in Deutschland, aber
in noch roherer Form auf. Nur auf einem Punkte erhielt sich die ge-
richtliche Competenz, wenigstens als theoretischer Anspruch der Gerichte;
das ist da, wo die öffentlichen Rechte auf Grund eines Privatrechts-
titels besessen werden. Der Unterschied der Auffassung des vorigen und
des gegenwärtigen Jahrhunderts besteht darin, daß nicht die einzelnen
Akte der Regierungsgewalt, sondern diese Gewalt an sich, der Besitz
derselben titulo dominii, das "Hoheitsrecht" und seine Ausdehnung
gegenüber der Grundherrlichkeit Gegenstand des Streits über die Com-
petenz ward. Die Gerichte forderten es für sich, die Landesherrn ver-
weigerten es. Auf dieser Grundlage bleibt aber der Gedanke leben-
dig, daß die Gerichte auch gegenüber der Thätigkeit der Regierung
irgend eine Competenz haben müssen. Und da nun diese Gränze der
Competenz an dem Unterschied zwischen gesetzlichem und verordnungs-
mäßigem Recht keinen Anhaltspunkt fand, da dieser Unterschied eben
nicht existirte, so kam man dazu, dieselbe an einzelnen Sachen
bestimmen zu wollen. Das hatte den guten Sinn, daß allerdings die
Ausdehnung der Hoheitsrechte in den verschiedenen Staaten sehr ver-
schieden war, und daher überhaupt die Competenz selbst kaum principiell,
sondern nur der örtlichen Gestalt des öffentlichen Rechts nach verschieden
war. So war der Gedanke des Unterschiedes zwischen Justiz- und
Administrativsachen Grundlage für die Gränze des Klag- und Beschwerde-
rechts, und für die Competenz der Gerichte und der Verwaltungsbehör-
den. Und man kann im Allgemeinen sagen, daß der Streit zwischen
beiden bis zum Ende des vorigen Jahrhunderts weder theoretisch noch
praktisch entschieden war.

Mit dem Beginne dieses Jahrhunderts treten nun die Verfassungen,
mit ihnen der Begriff des Gesetzes gegenüber dem der Verordnung auf.
Jetzt war scheinbar die Frage nach der Competenz zwischen Gericht und
Administration erledigt. Allein die Verfassungen selbst hatten einen ganz
andern Charakter als in Frankreich. Nicht die volonte generale oder
die souverainete de la nation, sondern die Landesherren gaben die
Verfassungen. Der Wille der höchsten Regierungsgewalt war daher die
eigentlich rechtbildende Kraft im öffentlichen Recht; das ganze öffentliche
Recht ging -- bis auf die neuesie Zeit -- sowohl in Verfassung als in
Verwaltung aus derselben Quelle hervor, aus der die Verordnungen
erflossen. Das Gefühl dieses Verhältnisses ist allenthalben lebendig;
der Proceß und die Kraft der innern Staatsbildung ruht nach wie
vor im Königthum und die Volksvertretung bildet nur ein Moment an
derselben. Die Folge ist, daß ein Hineingreifen der Gerichte in diesen

dem Einzelnen Streit hatte, das Gericht zuſtändig ſei. Der Gedanke
des franzöſiſchen droit administratif tritt daher in Deutſchland, aber
in noch roherer Form auf. Nur auf einem Punkte erhielt ſich die ge-
richtliche Competenz, wenigſtens als theoretiſcher Anſpruch der Gerichte;
das iſt da, wo die öffentlichen Rechte auf Grund eines Privatrechts-
titels beſeſſen werden. Der Unterſchied der Auffaſſung des vorigen und
des gegenwärtigen Jahrhunderts beſteht darin, daß nicht die einzelnen
Akte der Regierungsgewalt, ſondern dieſe Gewalt an ſich, der Beſitz
derſelben titulo dominii, das „Hoheitsrecht“ und ſeine Ausdehnung
gegenüber der Grundherrlichkeit Gegenſtand des Streits über die Com-
petenz ward. Die Gerichte forderten es für ſich, die Landesherrn ver-
weigerten es. Auf dieſer Grundlage bleibt aber der Gedanke leben-
dig, daß die Gerichte auch gegenüber der Thätigkeit der Regierung
irgend eine Competenz haben müſſen. Und da nun dieſe Gränze der
Competenz an dem Unterſchied zwiſchen geſetzlichem und verordnungs-
mäßigem Recht keinen Anhaltspunkt fand, da dieſer Unterſchied eben
nicht exiſtirte, ſo kam man dazu, dieſelbe an einzelnen Sachen
beſtimmen zu wollen. Das hatte den guten Sinn, daß allerdings die
Ausdehnung der Hoheitsrechte in den verſchiedenen Staaten ſehr ver-
ſchieden war, und daher überhaupt die Competenz ſelbſt kaum principiell,
ſondern nur der örtlichen Geſtalt des öffentlichen Rechts nach verſchieden
war. So war der Gedanke des Unterſchiedes zwiſchen Juſtiz- und
Adminiſtrativſachen Grundlage für die Gränze des Klag- und Beſchwerde-
rechts, und für die Competenz der Gerichte und der Verwaltungsbehör-
den. Und man kann im Allgemeinen ſagen, daß der Streit zwiſchen
beiden bis zum Ende des vorigen Jahrhunderts weder theoretiſch noch
praktiſch entſchieden war.

Mit dem Beginne dieſes Jahrhunderts treten nun die Verfaſſungen,
mit ihnen der Begriff des Geſetzes gegenüber dem der Verordnung auf.
Jetzt war ſcheinbar die Frage nach der Competenz zwiſchen Gericht und
Adminiſtration erledigt. Allein die Verfaſſungen ſelbſt hatten einen ganz
andern Charakter als in Frankreich. Nicht die volonté générale oder
die souveraineté de la nation, ſondern die Landesherren gaben die
Verfaſſungen. Der Wille der höchſten Regierungsgewalt war daher die
eigentlich rechtbildende Kraft im öffentlichen Recht; das ganze öffentliche
Recht ging — bis auf die neueſie Zeit — ſowohl in Verfaſſung als in
Verwaltung aus derſelben Quelle hervor, aus der die Verordnungen
erfloſſen. Das Gefühl dieſes Verhältniſſes iſt allenthalben lebendig;
der Proceß und die Kraft der innern Staatsbildung ruht nach wie
vor im Königthum und die Volksvertretung bildet nur ein Moment an
derſelben. Die Folge iſt, daß ein Hineingreifen der Gerichte in dieſen

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[180/0204] dem Einzelnen Streit hatte, das Gericht zuſtändig ſei. Der Gedanke des franzöſiſchen droit administratif tritt daher in Deutſchland, aber in noch roherer Form auf. Nur auf einem Punkte erhielt ſich die ge- richtliche Competenz, wenigſtens als theoretiſcher Anſpruch der Gerichte; das iſt da, wo die öffentlichen Rechte auf Grund eines Privatrechts- titels beſeſſen werden. Der Unterſchied der Auffaſſung des vorigen und des gegenwärtigen Jahrhunderts beſteht darin, daß nicht die einzelnen Akte der Regierungsgewalt, ſondern dieſe Gewalt an ſich, der Beſitz derſelben titulo dominii, das „Hoheitsrecht“ und ſeine Ausdehnung gegenüber der Grundherrlichkeit Gegenſtand des Streits über die Com- petenz ward. Die Gerichte forderten es für ſich, die Landesherrn ver- weigerten es. Auf dieſer Grundlage bleibt aber der Gedanke leben- dig, daß die Gerichte auch gegenüber der Thätigkeit der Regierung irgend eine Competenz haben müſſen. Und da nun dieſe Gränze der Competenz an dem Unterſchied zwiſchen geſetzlichem und verordnungs- mäßigem Recht keinen Anhaltspunkt fand, da dieſer Unterſchied eben nicht exiſtirte, ſo kam man dazu, dieſelbe an einzelnen Sachen beſtimmen zu wollen. Das hatte den guten Sinn, daß allerdings die Ausdehnung der Hoheitsrechte in den verſchiedenen Staaten ſehr ver- ſchieden war, und daher überhaupt die Competenz ſelbſt kaum principiell, ſondern nur der örtlichen Geſtalt des öffentlichen Rechts nach verſchieden war. So war der Gedanke des Unterſchiedes zwiſchen Juſtiz- und Adminiſtrativſachen Grundlage für die Gränze des Klag- und Beſchwerde- rechts, und für die Competenz der Gerichte und der Verwaltungsbehör- den. Und man kann im Allgemeinen ſagen, daß der Streit zwiſchen beiden bis zum Ende des vorigen Jahrhunderts weder theoretiſch noch praktiſch entſchieden war. Mit dem Beginne dieſes Jahrhunderts treten nun die Verfaſſungen, mit ihnen der Begriff des Geſetzes gegenüber dem der Verordnung auf. Jetzt war ſcheinbar die Frage nach der Competenz zwiſchen Gericht und Adminiſtration erledigt. Allein die Verfaſſungen ſelbſt hatten einen ganz andern Charakter als in Frankreich. Nicht die volonté générale oder die souveraineté de la nation, ſondern die Landesherren gaben die Verfaſſungen. Der Wille der höchſten Regierungsgewalt war daher die eigentlich rechtbildende Kraft im öffentlichen Recht; das ganze öffentliche Recht ging — bis auf die neueſie Zeit — ſowohl in Verfaſſung als in Verwaltung aus derſelben Quelle hervor, aus der die Verordnungen erfloſſen. Das Gefühl dieſes Verhältniſſes iſt allenthalben lebendig; der Proceß und die Kraft der innern Staatsbildung ruht nach wie vor im Königthum und die Volksvertretung bildet nur ein Moment an derſelben. Die Folge iſt, daß ein Hineingreifen der Gerichte in dieſen

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Zitationshilfe: Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 1. Stuttgart, 1865, S. 180. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stein_verwaltungslehre01_1865/204>, abgerufen am 16.04.2024.