wieder andere sind; und in dieser Selbständigkeit ruht der innere Reichthum Europas, die unerschöpfliche Quelle seiner Macht; denn in ihm ist die Nothwendigkeit gegeben, in dem Verschiedenen an das Gleiche, in dem Gleichen an das Verschiedene zu denken. So zieht es die Arbeit des Geistes groß, so macht es aus jedem Volke und aus jedem Einzelnen in jedem Volke ein selbständiges Leben, eine selbständige schöpferische Kraft, und das ist es, was Europa zur Herrin der Welt gemacht hat und machen wird.
Und wenn ich mich jetzt frage, worin die Zukunft der Rechts- wissenschaft, die Aufgabe der neuen Zeit für uns liegt, so ant- wortet mir das Verständniß jener Thatsache. Es ist, wollen wir anders nicht zu den untern Reihen herabsinken, in unserer Wissen- schaft, die Auffassung des europäischen Rechtslebens als eines Ganzen, und das Begreifen des einzelnen Volkes und seiner Rechts- bildung als eines organischen Theiles dieses Ganzen, das wir zu leisten haben. Wir, denen die Philosophie die Erkenntniß der absoluten Principien, das römische Recht die geschichtliche Grund- lage der europäischen Rechtsbildung, die deutsche Rechtsgeschichte das innige Verständniß des individuellen Volksgeistes gelehrt haben, wir sind berufen, durch ein Jahrhundert ernster und schwerer Arbeit den Gedanken, das hohe Bild einer europäischen Rechts- bildung zu erfassen und zu verwirklichen, in der jedes einzelne Volk wieder seine eigene große Funktionen erfüllt. Wir, das Welt- volk, wo es sich um Gedanken handelt, wie die Engländer das Weltvolk der Arbeit und die Franzosen das Weltvolk des Waffen- ruhmes sind, wir müssen uns über den engen, absterbenden Kreis unserer bisherigen Auffassung auch in der Rechtswissenschaft er- heben. Indem wir bisher verstanden, was wir für uns selbst sind oder sein mochten, so müssen wir jetzt denken und sagen lernen, was wir neben den andern, für die andern sind. Die wahren Institutionen unserer deutschen Rechtswissenschaft müssen künftig in dem Bilde des europäischen Rechtslebens bestehen, und Niemand sollte an deutsches Recht gehen, ohne, wenn auch nur in seinen Grundzügen, das wunderbar große und schöne Bild des europäischen Rechts, aus der Einheit seiner Volksrechte, ihrer Ge- schichte, ihrer Gestalt, ihrer Elemente und ihrer wirkenden Indi- vidualität sich zu einem machtvollen organischen Leben entfaltend,
wieder andere ſind; und in dieſer Selbſtändigkeit ruht der innere Reichthum Europas, die unerſchöpfliche Quelle ſeiner Macht; denn in ihm iſt die Nothwendigkeit gegeben, in dem Verſchiedenen an das Gleiche, in dem Gleichen an das Verſchiedene zu denken. So zieht es die Arbeit des Geiſtes groß, ſo macht es aus jedem Volke und aus jedem Einzelnen in jedem Volke ein ſelbſtändiges Leben, eine ſelbſtändige ſchöpferiſche Kraft, und das iſt es, was Europa zur Herrin der Welt gemacht hat und machen wird.
Und wenn ich mich jetzt frage, worin die Zukunft der Rechts- wiſſenſchaft, die Aufgabe der neuen Zeit für uns liegt, ſo ant- wortet mir das Verſtändniß jener Thatſache. Es iſt, wollen wir anders nicht zu den untern Reihen herabſinken, in unſerer Wiſſen- ſchaft, die Auffaſſung des europäiſchen Rechtslebens als eines Ganzen, und das Begreifen des einzelnen Volkes und ſeiner Rechts- bildung als eines organiſchen Theiles dieſes Ganzen, das wir zu leiſten haben. Wir, denen die Philoſophie die Erkenntniß der abſoluten Principien, das römiſche Recht die geſchichtliche Grund- lage der europäiſchen Rechtsbildung, die deutſche Rechtsgeſchichte das innige Verſtändniß des individuellen Volksgeiſtes gelehrt haben, wir ſind berufen, durch ein Jahrhundert ernſter und ſchwerer Arbeit den Gedanken, das hohe Bild einer europäiſchen Rechts- bildung zu erfaſſen und zu verwirklichen, in der jedes einzelne Volk wieder ſeine eigene große Funktionen erfüllt. Wir, das Welt- volk, wo es ſich um Gedanken handelt, wie die Engländer das Weltvolk der Arbeit und die Franzoſen das Weltvolk des Waffen- ruhmes ſind, wir müſſen uns über den engen, abſterbenden Kreis unſerer bisherigen Auffaſſung auch in der Rechtswiſſenſchaft er- heben. Indem wir bisher verſtanden, was wir für uns ſelbſt ſind oder ſein mochten, ſo müſſen wir jetzt denken und ſagen lernen, was wir neben den andern, für die andern ſind. Die wahren Inſtitutionen unſerer deutſchen Rechtswiſſenſchaft müſſen künftig in dem Bilde des europäiſchen Rechtslebens beſtehen, und Niemand ſollte an deutſches Recht gehen, ohne, wenn auch nur in ſeinen Grundzügen, das wunderbar große und ſchöne Bild des europäiſchen Rechts, aus der Einheit ſeiner Volksrechte, ihrer Ge- ſchichte, ihrer Geſtalt, ihrer Elemente und ihrer wirkenden Indi- vidualität ſich zu einem machtvollen organiſchen Leben entfaltend,
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[IX/0015]
wieder andere ſind; und in dieſer Selbſtändigkeit ruht der innere
Reichthum Europas, die unerſchöpfliche Quelle ſeiner Macht; denn
in ihm iſt die Nothwendigkeit gegeben, in dem Verſchiedenen an das
Gleiche, in dem Gleichen an das Verſchiedene zu denken. So
zieht es die Arbeit des Geiſtes groß, ſo macht es aus jedem Volke
und aus jedem Einzelnen in jedem Volke ein ſelbſtändiges Leben,
eine ſelbſtändige ſchöpferiſche Kraft, und das iſt es, was Europa
zur Herrin der Welt gemacht hat und machen wird.
Und wenn ich mich jetzt frage, worin die Zukunft der Rechts-
wiſſenſchaft, die Aufgabe der neuen Zeit für uns liegt, ſo ant-
wortet mir das Verſtändniß jener Thatſache. Es iſt, wollen wir
anders nicht zu den untern Reihen herabſinken, in unſerer Wiſſen-
ſchaft, die Auffaſſung des europäiſchen Rechtslebens als eines
Ganzen, und das Begreifen des einzelnen Volkes und ſeiner Rechts-
bildung als eines organiſchen Theiles dieſes Ganzen, das wir zu
leiſten haben. Wir, denen die Philoſophie die Erkenntniß der
abſoluten Principien, das römiſche Recht die geſchichtliche Grund-
lage der europäiſchen Rechtsbildung, die deutſche Rechtsgeſchichte
das innige Verſtändniß des individuellen Volksgeiſtes gelehrt haben,
wir ſind berufen, durch ein Jahrhundert ernſter und ſchwerer
Arbeit den Gedanken, das hohe Bild einer europäiſchen Rechts-
bildung zu erfaſſen und zu verwirklichen, in der jedes einzelne
Volk wieder ſeine eigene große Funktionen erfüllt. Wir, das Welt-
volk, wo es ſich um Gedanken handelt, wie die Engländer das
Weltvolk der Arbeit und die Franzoſen das Weltvolk des Waffen-
ruhmes ſind, wir müſſen uns über den engen, abſterbenden Kreis
unſerer bisherigen Auffaſſung auch in der Rechtswiſſenſchaft er-
heben. Indem wir bisher verſtanden, was wir für uns ſelbſt
ſind oder ſein mochten, ſo müſſen wir jetzt denken und ſagen
lernen, was wir neben den andern, für die andern ſind. Die
wahren Inſtitutionen unſerer deutſchen Rechtswiſſenſchaft müſſen
künftig in dem Bilde des europäiſchen Rechtslebens beſtehen, und
Niemand ſollte an deutſches Recht gehen, ohne, wenn auch nur in
ſeinen Grundzügen, das wunderbar große und ſchöne Bild des
europäiſchen Rechts, aus der Einheit ſeiner Volksrechte, ihrer Ge-
ſchichte, ihrer Geſtalt, ihrer Elemente und ihrer wirkenden Indi-
vidualität ſich zu einem machtvollen organiſchen Leben entfaltend,
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Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 1. Stuttgart, 1865, S. IX. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stein_verwaltungslehre01_1865/15>, abgerufen am 24.11.2024.
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