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Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 1. Stuttgart, 1865.

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vor seinen geistigen Augen zu haben. Deßhalb aber sollen wir uns
wissen und erkennen lernen als das was wir sind -- als einen
lebendigen Theil des Ganzen, dem wir dienen, in dem wir die
tieferen Wurzeln unseres Daseins haben, mit dem wir, zugleich
arbeitend und leidend, das Leben Europas bilden. Da liegt die
Zukunft und die Größe der deutschen Rechtswissenschaft.

Ihnen nun, verehrter Freund, übergebe ich zunächst dieß
Werk, das in einem kleinen Theil des Rechts einen kleinen Theil
dieser Aufgaben mit noch immer sehr enger Beschränkung auf Eng-
land, Frankreich und Deutschland zu lösen versucht hat. Wenn
ich über England nichts anders zu sagen wußte, als was Sie ge-
geben, so mögen Sie darin einen Vorwurf erblicken, den Ihr
Werk selbst verschuldet. Es wird lange dauern, bevor wir hier
über das Benützen hinauskommen. Mein mag vielleicht das andere
Licht gehören, das mit meiner Arbeit auf einige der großen Er-
gebnisse der Ihrigen fällt; Niemand wird besser als Sie zu beur-
theilen verstehen, wie weit es richtig ist. Aber das Ideal der
deutschen Rechtswissenschaft, das mir lebendig vorschwebt, wird nie
erreicht werden, bis wir solche Werke wie das Ihrige über jeden
Theil Europas besitzen, und lernen, sie zu bewältigen. Das ist
nicht die Arbeit eines Menschen; das ist die Arbeit eines Jahr-
hunderts. Mein Glaube ist, daß wir an der Schwelle einer
solchen neuen Epoche für unsere Wissenschaft stehen, die uns über
die steigende Gefahr der bloßen Casuistik und der Unbekanntschaft
mit dem Fremden, das uns durch die Entwicklung des Gesammt-
lebens von Europa in Wahrheit nicht länger fremd bleiben darf,
erheben wird. Ich sehe die kommende Gestaltung ihre Schatten
schon in unsere Welt werfen; unser ist die Arbeit; unsere Lieben
mögen's erben. Und in diesem Geiste lassen Sie mich Ihnen aus
der Ferne die Hand reichen.

Zum Schlusse gestatten Sie mir noch eine Bemerkung. Sie
werden im nachfolgenden Werke sehen, daß ich von Oesterreich
wenig oder gar nicht gesprochen habe. Den Grund würden Sie
wissen, wenn Sie dieß Reich kennten. Es ist eine Welt für sich,
ein eigenthümlicher Organismus, mit gar keinem andern Europas, ja
der Welt vergleichbar. Es ist eine wunderbare Einheit der ver-
schiedensten Elemente; alles was Europa im Ganzen bietet, ist hier

vor ſeinen geiſtigen Augen zu haben. Deßhalb aber ſollen wir uns
wiſſen und erkennen lernen als das was wir ſind — als einen
lebendigen Theil des Ganzen, dem wir dienen, in dem wir die
tieferen Wurzeln unſeres Daſeins haben, mit dem wir, zugleich
arbeitend und leidend, das Leben Europas bilden. Da liegt die
Zukunft und die Größe der deutſchen Rechtswiſſenſchaft.

Ihnen nun, verehrter Freund, übergebe ich zunächſt dieß
Werk, das in einem kleinen Theil des Rechts einen kleinen Theil
dieſer Aufgaben mit noch immer ſehr enger Beſchränkung auf Eng-
land, Frankreich und Deutſchland zu löſen verſucht hat. Wenn
ich über England nichts anders zu ſagen wußte, als was Sie ge-
geben, ſo mögen Sie darin einen Vorwurf erblicken, den Ihr
Werk ſelbſt verſchuldet. Es wird lange dauern, bevor wir hier
über das Benützen hinauskommen. Mein mag vielleicht das andere
Licht gehören, das mit meiner Arbeit auf einige der großen Er-
gebniſſe der Ihrigen fällt; Niemand wird beſſer als Sie zu beur-
theilen verſtehen, wie weit es richtig iſt. Aber das Ideal der
deutſchen Rechtswiſſenſchaft, das mir lebendig vorſchwebt, wird nie
erreicht werden, bis wir ſolche Werke wie das Ihrige über jeden
Theil Europas beſitzen, und lernen, ſie zu bewältigen. Das iſt
nicht die Arbeit eines Menſchen; das iſt die Arbeit eines Jahr-
hunderts. Mein Glaube iſt, daß wir an der Schwelle einer
ſolchen neuen Epoche für unſere Wiſſenſchaft ſtehen, die uns über
die ſteigende Gefahr der bloßen Caſuiſtik und der Unbekanntſchaft
mit dem Fremden, das uns durch die Entwicklung des Geſammt-
lebens von Europa in Wahrheit nicht länger fremd bleiben darf,
erheben wird. Ich ſehe die kommende Geſtaltung ihre Schatten
ſchon in unſere Welt werfen; unſer iſt die Arbeit; unſere Lieben
mögen’s erben. Und in dieſem Geiſte laſſen Sie mich Ihnen aus
der Ferne die Hand reichen.

Zum Schluſſe geſtatten Sie mir noch eine Bemerkung. Sie
werden im nachfolgenden Werke ſehen, daß ich von Oeſterreich
wenig oder gar nicht geſprochen habe. Den Grund würden Sie
wiſſen, wenn Sie dieß Reich kennten. Es iſt eine Welt für ſich,
ein eigenthümlicher Organismus, mit gar keinem andern Europas, ja
der Welt vergleichbar. Es iſt eine wunderbare Einheit der ver-
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Zitationshilfe: Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 1. Stuttgart, 1865, S. X. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stein_verwaltungslehre01_1865/16>, abgerufen am 24.11.2024.