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Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 1. Stuttgart, 1865.

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er die Einheit und Größe desjenigen bewundern, was wir in
unserer Rechtsgeschichte besaßen. Ist dem noch so?

Fordern Sie an dieser Stelle keinen Beweis, keine Gründe,
keine Erwägungen und Erörterungen. Aber den Ausdruck der
Ueberzeugung lassen Sie mir -- ich glaube, nein. Die deutsche
Rechtsgeschichte ist nicht mehr, was sie gewesen. Wir sind im Ein-
zelnen, nicht aber im Ganzen weiter, als der Meister. Die
deutsche Rechtsgeschichte wendet sich. Sie wird ein Gebiet der
Gelehrsamkeit. Ihre Zeit ist vorüber; sie hat ihre große
Funktion erfüllt. Vergeblich ringt die Mühe ihrer Vertreter dar-
nach, ihr das alte Gewicht zurückzugeben; vergeblich nennt man
sie mit dem alten Namen. Niemals ist es der Sonne eines Tages
gegeben, zweimal zu scheinen.

Und dennoch war sie es, an welcher sich die Individualität,
die Kraft der Selbständigkeit unseres Volkes erhielt. Mit ihr
sinkt nicht bloß eine vergangene Zeit, sondern auch eine lebendige
Potenz. Wer und was wird sie ersetzen?

Wir sind ein gelehrtes, ein fleißiges Volk. Wir vermögen zu
leisten, was kein anderes auf dem Felde der wissenschaftlichen Mühe
zu leisten vermag. Aber über uns hinweg geht der mächtige Strom
des wirklichen, des europäischen Lebens. In tausend Richtungen,
mit tausend Gewalten ergreift es uns; die Völker vermischen sich;
die Unternehmungen reichen sich über Land und Meer die Hände;
es ist eine neue Zeit, die uns kommt; was ist unsere Aufgabe
in derselben?

Es gibt, und deß bin ich innig überzeugt, nur Eins, was
wir zu thun haben, und was auch nur wir zu leisten im Stande
sind. Diese europäische Welt ist eine wunderbare. Allen Ländern
derselben leuchtet der gleiche Tag, allen keimt dieselbe Epoche der
Geschichte; alle erfaßt stets die gleiche Bewegung. Aber mit Bergen
und Meeren hat sie der Herr geschieden; innerhalb ihrer Gränzen
wächst und wird ein selbständiges, eigenthümliches Dasein; eine
eigenthümliche Kraft erfaßt gleichsam die großen europäischen That-
sachen, hält sie fest an ihrem Ort, nährt und bewacht sie, bis sie
in der Mitte der Gleichartigkeit des Gesammtlebens ein individuelles
Dasein, einen in sich ruhenden Geist empfangen. Europa ist der
Welttheil, in welchem alle menschlichen Dinge dieselben und doch

er die Einheit und Größe desjenigen bewundern, was wir in
unſerer Rechtsgeſchichte beſaßen. Iſt dem noch ſo?

Fordern Sie an dieſer Stelle keinen Beweis, keine Gründe,
keine Erwägungen und Erörterungen. Aber den Ausdruck der
Ueberzeugung laſſen Sie mir — ich glaube, nein. Die deutſche
Rechtsgeſchichte iſt nicht mehr, was ſie geweſen. Wir ſind im Ein-
zelnen, nicht aber im Ganzen weiter, als der Meiſter. Die
deutſche Rechtsgeſchichte wendet ſich. Sie wird ein Gebiet der
Gelehrſamkeit. Ihre Zeit iſt vorüber; ſie hat ihre große
Funktion erfüllt. Vergeblich ringt die Mühe ihrer Vertreter dar-
nach, ihr das alte Gewicht zurückzugeben; vergeblich nennt man
ſie mit dem alten Namen. Niemals iſt es der Sonne eines Tages
gegeben, zweimal zu ſcheinen.

Und dennoch war ſie es, an welcher ſich die Individualität,
die Kraft der Selbſtändigkeit unſeres Volkes erhielt. Mit ihr
ſinkt nicht bloß eine vergangene Zeit, ſondern auch eine lebendige
Potenz. Wer und was wird ſie erſetzen?

Wir ſind ein gelehrtes, ein fleißiges Volk. Wir vermögen zu
leiſten, was kein anderes auf dem Felde der wiſſenſchaftlichen Mühe
zu leiſten vermag. Aber über uns hinweg geht der mächtige Strom
des wirklichen, des europäiſchen Lebens. In tauſend Richtungen,
mit tauſend Gewalten ergreift es uns; die Völker vermiſchen ſich;
die Unternehmungen reichen ſich über Land und Meer die Hände;
es iſt eine neue Zeit, die uns kommt; was iſt unſere Aufgabe
in derſelben?

Es gibt, und deß bin ich innig überzeugt, nur Eins, was
wir zu thun haben, und was auch nur wir zu leiſten im Stande
ſind. Dieſe europäiſche Welt iſt eine wunderbare. Allen Ländern
derſelben leuchtet der gleiche Tag, allen keimt dieſelbe Epoche der
Geſchichte; alle erfaßt ſtets die gleiche Bewegung. Aber mit Bergen
und Meeren hat ſie der Herr geſchieden; innerhalb ihrer Gränzen
wächst und wird ein ſelbſtändiges, eigenthümliches Daſein; eine
eigenthümliche Kraft erfaßt gleichſam die großen europäiſchen That-
ſachen, hält ſie feſt an ihrem Ort, nährt und bewacht ſie, bis ſie
in der Mitte der Gleichartigkeit des Geſammtlebens ein individuelles
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Zitationshilfe: Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 1. Stuttgart, 1865, S. VIII. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stein_verwaltungslehre01_1865/14>, abgerufen am 29.03.2024.