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Stein, Lorenz von: Handbuch der Verwaltungslehre und des Verwaltungsrechts: mit Vergleichung der Literatur und Gesetzgebung von Frankreich, England und Deutschland; als Grundlage für Vorlesungen. Stuttgart, 1870.

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pflege, das Heimathswesen, das Grundbuchswesen, das Wegewesen,
die Post und hundert andere Dinge auch nur ins Lateinische über-
setzen? Kann ihm daher eine Disciplin, welche für die Haupt-
verhältnisse unsrer Zeit gar keinen Namen hat, helfen, wenn
ihn das Volk wählt, weil es meint, er müsse verständliche Sachen
verstehen, da er ja unverständliche verstehe. Kann er selbst das
Gefühl haben, im öffentlichen Leben etwas zu leisten, wenn er nie
gelernt hat, sich mit demselben geistig zu beschäftigen? Kann er
zufrieden sein mit einer Fachbildung, deren Schwerpunkt in histo-
rischer und casuistischer Doktrin besteht, und die in Geschichte und
System da aufhört, wo unsere Zeit anfängt, mit dem westphäli-
schen Frieden? Und was ist die Folge davon, daß er das nicht
kann, und daß er an seinen Universitäten alles lernt, nur nicht
das, was er am nöthigsten braucht, das wirkliche Leben der mensch-
lichen Gemeinschaft und seine Anstalten und Bedürfnisse? Die
erste Folge davon ist die, unter der wir alle leiden, die "Phrase."
Deutschland, das Land der tiefen Denker und der exakten Gram-
matiker, ist das Land der politischen Phrase wie kein anderes der
Welt; das Land, in welchem die Phrase um der Phrase willen
gesagt wird; das Land, in welchem die eine Hälfte der öffentlichen
Stimmen die andere ermüdet durch ewig neues Suchen nach Worten,
die zu vieles bedeuten, um etwas zu gelten; das Land, in dem
man redet, weil man wenig zu sagen hat. Die zweite Folge aber
ist die, daß in allen Volks- und Reichsvertretungen die gebildeten
Fachjuristen allmählig ganz verschwinden, daß die glatte Journa-
listik statt ihrer in der Tagespresse, der Geschäftsmann und der
Bürger statt ihrer in den Vertretungen das Wort nimmt. Die
wichtigste Thatsache unserer Gegenwart und auch unserer nächsten
Zukunft ist die, daß unsere heutige Jurisprudenz vollkommen un-
fähig ist, Männer des öffentlichen Lebens, deutsche Staatsmänner
zu erzeugen; der Grund davon ist, daß auf den Hochschulen die
Pandekten Hauptsache und die Staatswissenschaften Nebensache sind;
und nicht weil wir gelehrt sind, sondern weil wir auf einem
verkehrten Punkte gelehrt sind
, stehen wir zurück hinter
den Engländern und Franzosen, denen wir überlegen sind in allem,
was alle anderen angeht, die uns aber überragen in allem, was
das Verständniß der eigenen praktischen Interessen betrifft. So

pflege, das Heimathsweſen, das Grundbuchsweſen, das Wegeweſen,
die Poſt und hundert andere Dinge auch nur ins Lateiniſche über-
ſetzen? Kann ihm daher eine Disciplin, welche für die Haupt-
verhältniſſe unſrer Zeit gar keinen Namen hat, helfen, wenn
ihn das Volk wählt, weil es meint, er müſſe verſtändliche Sachen
verſtehen, da er ja unverſtändliche verſtehe. Kann er ſelbſt das
Gefühl haben, im öffentlichen Leben etwas zu leiſten, wenn er nie
gelernt hat, ſich mit demſelben geiſtig zu beſchäftigen? Kann er
zufrieden ſein mit einer Fachbildung, deren Schwerpunkt in hiſto-
riſcher und caſuiſtiſcher Doktrin beſteht, und die in Geſchichte und
Syſtem da aufhört, wo unſere Zeit anfängt, mit dem weſtphäli-
ſchen Frieden? Und was iſt die Folge davon, daß er das nicht
kann, und daß er an ſeinen Univerſitäten alles lernt, nur nicht
das, was er am nöthigſten braucht, das wirkliche Leben der menſch-
lichen Gemeinſchaft und ſeine Anſtalten und Bedürfniſſe? Die
erſte Folge davon iſt die, unter der wir alle leiden, die „Phraſe.“
Deutſchland, das Land der tiefen Denker und der exakten Gram-
matiker, iſt das Land der politiſchen Phraſe wie kein anderes der
Welt; das Land, in welchem die Phraſe um der Phraſe willen
geſagt wird; das Land, in welchem die eine Hälfte der öffentlichen
Stimmen die andere ermüdet durch ewig neues Suchen nach Worten,
die zu vieles bedeuten, um etwas zu gelten; das Land, in dem
man redet, weil man wenig zu ſagen hat. Die zweite Folge aber
iſt die, daß in allen Volks- und Reichsvertretungen die gebildeten
Fachjuriſten allmählig ganz verſchwinden, daß die glatte Journa-
liſtik ſtatt ihrer in der Tagespreſſe, der Geſchäftsmann und der
Bürger ſtatt ihrer in den Vertretungen das Wort nimmt. Die
wichtigſte Thatſache unſerer Gegenwart und auch unſerer nächſten
Zukunft iſt die, daß unſere heutige Jurisprudenz vollkommen un-
fähig iſt, Männer des öffentlichen Lebens, deutſche Staatsmänner
zu erzeugen; der Grund davon iſt, daß auf den Hochſchulen die
Pandekten Hauptſache und die Staatswiſſenſchaften Nebenſache ſind;
und nicht weil wir gelehrt ſind, ſondern weil wir auf einem
verkehrten Punkte gelehrt ſind
, ſtehen wir zurück hinter
den Engländern und Franzoſen, denen wir überlegen ſind in allem,
was alle anderen angeht, die uns aber überragen in allem, was
das Verſtändniß der eigenen praktiſchen Intereſſen betrifft. So

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[VII/0013] pflege, das Heimathsweſen, das Grundbuchsweſen, das Wegeweſen, die Poſt und hundert andere Dinge auch nur ins Lateiniſche über- ſetzen? Kann ihm daher eine Disciplin, welche für die Haupt- verhältniſſe unſrer Zeit gar keinen Namen hat, helfen, wenn ihn das Volk wählt, weil es meint, er müſſe verſtändliche Sachen verſtehen, da er ja unverſtändliche verſtehe. Kann er ſelbſt das Gefühl haben, im öffentlichen Leben etwas zu leiſten, wenn er nie gelernt hat, ſich mit demſelben geiſtig zu beſchäftigen? Kann er zufrieden ſein mit einer Fachbildung, deren Schwerpunkt in hiſto- riſcher und caſuiſtiſcher Doktrin beſteht, und die in Geſchichte und Syſtem da aufhört, wo unſere Zeit anfängt, mit dem weſtphäli- ſchen Frieden? Und was iſt die Folge davon, daß er das nicht kann, und daß er an ſeinen Univerſitäten alles lernt, nur nicht das, was er am nöthigſten braucht, das wirkliche Leben der menſch- lichen Gemeinſchaft und ſeine Anſtalten und Bedürfniſſe? Die erſte Folge davon iſt die, unter der wir alle leiden, die „Phraſe.“ Deutſchland, das Land der tiefen Denker und der exakten Gram- matiker, iſt das Land der politiſchen Phraſe wie kein anderes der Welt; das Land, in welchem die Phraſe um der Phraſe willen geſagt wird; das Land, in welchem die eine Hälfte der öffentlichen Stimmen die andere ermüdet durch ewig neues Suchen nach Worten, die zu vieles bedeuten, um etwas zu gelten; das Land, in dem man redet, weil man wenig zu ſagen hat. Die zweite Folge aber iſt die, daß in allen Volks- und Reichsvertretungen die gebildeten Fachjuriſten allmählig ganz verſchwinden, daß die glatte Journa- liſtik ſtatt ihrer in der Tagespreſſe, der Geſchäftsmann und der Bürger ſtatt ihrer in den Vertretungen das Wort nimmt. Die wichtigſte Thatſache unſerer Gegenwart und auch unſerer nächſten Zukunft iſt die, daß unſere heutige Jurisprudenz vollkommen un- fähig iſt, Männer des öffentlichen Lebens, deutſche Staatsmänner zu erzeugen; der Grund davon iſt, daß auf den Hochſchulen die Pandekten Hauptſache und die Staatswiſſenſchaften Nebenſache ſind; und nicht weil wir gelehrt ſind, ſondern weil wir auf einem verkehrten Punkte gelehrt ſind, ſtehen wir zurück hinter den Engländern und Franzoſen, denen wir überlegen ſind in allem, was alle anderen angeht, die uns aber überragen in allem, was das Verſtändniß der eigenen praktiſchen Intereſſen betrifft. So

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Zitationshilfe: Stein, Lorenz von: Handbuch der Verwaltungslehre und des Verwaltungsrechts: mit Vergleichung der Literatur und Gesetzgebung von Frankreich, England und Deutschland; als Grundlage für Vorlesungen. Stuttgart, 1870, S. VII. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stein_handbuch_1870/13>, abgerufen am 24.11.2024.