Staiger, Emil: Grundbegriffe der Poetik. Zürich, 1946.pst_087.001 Oder ist dies wieder nicht einfach in der Kürze des pst_087.024 pst_087.001 Oder ist dies wieder nicht einfach in der Kürze des pst_087.024 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0091" n="87"/><lb n="pst_087.001"/> daß eine geschichtliche Welt unmöglich sei (vergleiche <lb n="pst_087.002"/> Seite 199). Epen und Dramen haben also eine geschichtliche <lb n="pst_087.003"/> Funktion. Aus einem Lied ergibt sich nichts. Es <lb n="pst_087.004"/> wird gedichtet, es läßt uns kalt, es findet die Liebe Einzelner. <lb n="pst_087.005"/> Niemand aber kann sein Leben durch ein Lied <lb n="pst_087.006"/> bestimmen lassen, wie man sich wohl aus Epen und <lb n="pst_087.007"/> Dramen einen Helden wählen mag. Es gibt kein Vorbild <lb n="pst_087.008"/> und schreckt nicht ab. Wir finden keinen Rat bei <lb n="pst_087.009"/> ihm, wenn wir uns entscheiden müssen, während uns <lb n="pst_087.010"/> eine Sentenz doch wohl in schwerer Stunde stärken <lb n="pst_087.011"/> mag. Lieder bleiben unverbindlich. Sie lösen keine Probleme. <lb n="pst_087.012"/> Wir können uns nicht auf sie berufen. Wer <lb n="pst_087.013"/> wollte einen Duft, ein Schwebendes, Atmosphärisches <lb n="pst_087.014"/> je als Zeugen in irgendeiner Sache nennen? Ein Lied <lb n="pst_087.015"/> kann uns trösten, aber nicht helfen. Es ist viel eher eine <lb n="pst_087.016"/> Geliebte als ein Freund, auf den wir uns stützen, um zu <lb n="pst_087.017"/> Werken und Taten zu schreiten, und eine Geliebte eher <lb n="pst_087.018"/> als die Frau, die mit dem Manne dauernd verbunden <lb n="pst_087.019"/> ist. All dies geht daraus hervor, daß lyrische Dichtung <lb n="pst_087.020"/> nichts bewältigt, daß sie keinen Gegenstand hat, um <lb n="pst_087.021"/> etwas wie Kraft daran zu erproben, daß sie, um es kurz <lb n="pst_087.022"/> zu sagen, zwar seelenvoll, aber geistlos ist.</p> <lb n="pst_087.023"/> <p> Oder ist dies wieder nicht einfach in der Kürze des <lb n="pst_087.024"/> Lieds begründet? Die wenigen Zeilen «stellen nichts <lb n="pst_087.025"/> vor». Wie sollten sie Geschichte machen oder irgend <lb n="pst_087.026"/> verläßlich sein? Dagegen ist nichts einzuwenden. Wir <lb n="pst_087.027"/> wissen nun aber, wie die Kürze zum Wesen des Lyrischen <lb n="pst_087.028"/> gehört. Jedes Lied ist kurz, weil es nur so lange <lb n="pst_087.029"/> dauert, als das Seiende mit dem Dichter übereinstimmt. <lb n="pst_087.030"/> Das heißt jedoch mit anderen Worten: Der lyrische <lb n="pst_087.031"/> Dichter hat kein Schicksal. Dort, wo das Schicksal, der </p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [87/0091]
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daß eine geschichtliche Welt unmöglich sei (vergleiche pst_087.002
Seite 199). Epen und Dramen haben also eine geschichtliche pst_087.003
Funktion. Aus einem Lied ergibt sich nichts. Es pst_087.004
wird gedichtet, es läßt uns kalt, es findet die Liebe Einzelner. pst_087.005
Niemand aber kann sein Leben durch ein Lied pst_087.006
bestimmen lassen, wie man sich wohl aus Epen und pst_087.007
Dramen einen Helden wählen mag. Es gibt kein Vorbild pst_087.008
und schreckt nicht ab. Wir finden keinen Rat bei pst_087.009
ihm, wenn wir uns entscheiden müssen, während uns pst_087.010
eine Sentenz doch wohl in schwerer Stunde stärken pst_087.011
mag. Lieder bleiben unverbindlich. Sie lösen keine Probleme. pst_087.012
Wir können uns nicht auf sie berufen. Wer pst_087.013
wollte einen Duft, ein Schwebendes, Atmosphärisches pst_087.014
je als Zeugen in irgendeiner Sache nennen? Ein Lied pst_087.015
kann uns trösten, aber nicht helfen. Es ist viel eher eine pst_087.016
Geliebte als ein Freund, auf den wir uns stützen, um zu pst_087.017
Werken und Taten zu schreiten, und eine Geliebte eher pst_087.018
als die Frau, die mit dem Manne dauernd verbunden pst_087.019
ist. All dies geht daraus hervor, daß lyrische Dichtung pst_087.020
nichts bewältigt, daß sie keinen Gegenstand hat, um pst_087.021
etwas wie Kraft daran zu erproben, daß sie, um es kurz pst_087.022
zu sagen, zwar seelenvoll, aber geistlos ist.
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Oder ist dies wieder nicht einfach in der Kürze des pst_087.024
Lieds begründet? Die wenigen Zeilen «stellen nichts pst_087.025
vor». Wie sollten sie Geschichte machen oder irgend pst_087.026
verläßlich sein? Dagegen ist nichts einzuwenden. Wir pst_087.027
wissen nun aber, wie die Kürze zum Wesen des Lyrischen pst_087.028
gehört. Jedes Lied ist kurz, weil es nur so lange pst_087.029
dauert, als das Seiende mit dem Dichter übereinstimmt. pst_087.030
Das heißt jedoch mit anderen Worten: Der lyrische pst_087.031
Dichter hat kein Schicksal. Dort, wo das Schicksal, der
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(2015-09-30T09:54:39Z)
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