Staiger, Emil: Grundbegriffe der Poetik. Zürich, 1946.pst_086.001 "Nacht ist voller Lug und Trug, pst_086.004 Nimmer sehen wir genug pst_086.005 In den schwarzen Augen; pst_086.006 Heiß ist Liebe, Nacht ist kühl, pst_086.007 Ach! ich seh ihr viel zu viel pst_086.008 In die schwarzen Augen! pst_086.009 pst_086.015Sonne wollt' nicht untergehn, pst_086.010 Blieb am Berg neugierig stehn; pst_086.011 Kam die Nacht gegangen; pst_086.012 Stille Nacht, in deinem Schoß pst_086.013 Liegt der Menschen höchstes Los pst_086.014 Mütterlich umfangen." Die Nacht ist voller Lug und Trug; die Nacht ist mütterlicher pst_086.016 Ein einzelnes Lied beweist darum nichts. Ein Epos, pst_086.021 pst_086.001 «Nacht ist voller Lug und Trug, pst_086.004 Nimmer sehen wir genug pst_086.005 In den schwarzen Augen; pst_086.006 Heiß ist Liebe, Nacht ist kühl, pst_086.007 Ach! ich seh ihr viel zu viel pst_086.008 In die schwarzen Augen! pst_086.009 pst_086.015Sonne wollt' nicht untergehn, pst_086.010 Blieb am Berg neugierig stehn; pst_086.011 Kam die Nacht gegangen; pst_086.012 Stille Nacht, in deinem Schoß pst_086.013 Liegt der Menschen höchstes Los pst_086.014 Mütterlich umfangen.» Die Nacht ist voller Lug und Trug; die Nacht ist mütterlicher pst_086.016 Ein einzelnes Lied beweist darum nichts. Ein Epos, pst_086.021 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0090" n="86"/><lb n="pst_086.001"/> nicht gewahr. In einem Gedicht Brentanos <lb n="pst_086.002"/> heißt es:</p> <lb n="pst_086.003"/> <lg> <l>«Nacht ist voller Lug und Trug,</l> <lb n="pst_086.004"/> <l>Nimmer sehen wir genug</l> <lb n="pst_086.005"/> <l>In den schwarzen Augen;</l> <lb n="pst_086.006"/> <l>Heiß ist Liebe, Nacht ist kühl,</l> <lb n="pst_086.007"/> <l>Ach! ich seh ihr viel zu viel</l> <lb n="pst_086.008"/> <l>In die schwarzen Augen! </l> </lg> <lg> <lb n="pst_086.009"/> <l>Sonne wollt' nicht untergehn,</l> <lb n="pst_086.010"/> <l>Blieb am Berg neugierig stehn;</l> <lb n="pst_086.011"/> <l>Kam die Nacht gegangen;</l> <lb n="pst_086.012"/> <l>Stille Nacht, in deinem Schoß</l> <lb n="pst_086.013"/> <l>Liegt der Menschen höchstes Los</l> <lb n="pst_086.014"/> <l>Mütterlich umfangen.»</l> </lg> <lb n="pst_086.015"/> <p>Die Nacht ist voller Lug und Trug; die Nacht ist mütterlicher <lb n="pst_086.016"/> Schoß. Ich sehe nie genug, ich sehe viel zu viel <lb n="pst_086.017"/> in ihre Augen. Das steht unvermittelt nebeneinander. <lb n="pst_086.018"/> Es stört den Dichter nicht, denn er denkt nicht, und er <lb n="pst_086.019"/> setzt nichts voraus.</p> <lb n="pst_086.020"/> <p> Ein einzelnes Lied <hi rendition="#g">beweist</hi> darum nichts. Ein Epos, <lb n="pst_086.021"/> ein Drama beweist zunächst, daß sein Schöpfer eine <lb n="pst_086.022"/> dichterische Existenz ist. Ein einzelnes Lied dagegen, <lb n="pst_086.023"/> wie es in jeder Hinsicht ein Zufall bleibt, kann auch <lb n="pst_086.024"/> einmal Unbegabten gelingen. Es gibt in der deutschen <lb n="pst_086.025"/> Dichtung manche Zufälle dieser Art, etwa die wenigen <lb n="pst_086.026"/> Lieder Luise Hensels, Marianne von Willemers oder <lb n="pst_086.027"/> das «Zu spät» Friedrich Theodor Vischers. – Doch Epen <lb n="pst_086.028"/> und Dramen beweisen noch mehr. Ein Epos beweist <lb n="pst_086.029"/> eine Einheit des Daseins, weiterhin eine Einheit des <lb n="pst_086.030"/> Volks (vergleiche Seite 142). Ein Drama kann beweisen, </p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [86/0090]
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nicht gewahr. In einem Gedicht Brentanos pst_086.002
heißt es:
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«Nacht ist voller Lug und Trug, pst_086.004
Nimmer sehen wir genug pst_086.005
In den schwarzen Augen; pst_086.006
Heiß ist Liebe, Nacht ist kühl, pst_086.007
Ach! ich seh ihr viel zu viel pst_086.008
In die schwarzen Augen!
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Sonne wollt' nicht untergehn, pst_086.010
Blieb am Berg neugierig stehn; pst_086.011
Kam die Nacht gegangen; pst_086.012
Stille Nacht, in deinem Schoß pst_086.013
Liegt der Menschen höchstes Los pst_086.014
Mütterlich umfangen.»
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Die Nacht ist voller Lug und Trug; die Nacht ist mütterlicher pst_086.016
Schoß. Ich sehe nie genug, ich sehe viel zu viel pst_086.017
in ihre Augen. Das steht unvermittelt nebeneinander. pst_086.018
Es stört den Dichter nicht, denn er denkt nicht, und er pst_086.019
setzt nichts voraus.
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Ein einzelnes Lied beweist darum nichts. Ein Epos, pst_086.021
ein Drama beweist zunächst, daß sein Schöpfer eine pst_086.022
dichterische Existenz ist. Ein einzelnes Lied dagegen, pst_086.023
wie es in jeder Hinsicht ein Zufall bleibt, kann auch pst_086.024
einmal Unbegabten gelingen. Es gibt in der deutschen pst_086.025
Dichtung manche Zufälle dieser Art, etwa die wenigen pst_086.026
Lieder Luise Hensels, Marianne von Willemers oder pst_086.027
das «Zu spät» Friedrich Theodor Vischers. – Doch Epen pst_086.028
und Dramen beweisen noch mehr. Ein Epos beweist pst_086.029
eine Einheit des Daseins, weiterhin eine Einheit des pst_086.030
Volks (vergleiche Seite 142). Ein Drama kann beweisen,
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