Staiger, Emil: Grundbegriffe der Poetik. Zürich, 1946.pst_085.001 Der Lyriker also baut nichts auf, aber freilich zerstört pst_085.026 pst_085.001 Der Lyriker also baut nichts auf, aber freilich zerstört pst_085.026 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0089" n="85"/><lb n="pst_085.001"/> sind Küsse, die man der Welt gibt; aber aus bloßen <lb n="pst_085.002"/> Küssen entstehen keine Kinder». Das ist so scherzhaft <lb n="pst_085.003"/> und ergiebig wie vieles, was Goethe in ästhetischen <lb n="pst_085.004"/> Fragen zum Besten gegeben hat. Er meint zunächst – <lb n="pst_085.005"/> um im Bilde zu bleiben – daß Lyrisches nicht gezeugt, <lb n="pst_085.006"/> nicht ausgetragen und nicht geboren wird. Zeugen, <lb n="pst_085.007"/> Austragen und Gebären, das träfe nur zu auf ein Dichten, <lb n="pst_085.008"/> das im «Stoff» den Keim des Lebens weckt und <lb n="pst_085.009"/> ein Geschöpf allmählich bildet. Goethe meint aber weiterhin, <lb n="pst_085.010"/> es werde im Lyrischen nichts begründet. Wir <lb n="pst_085.011"/> haben gesehen, daß die lyrische Stimmung selber grundlos <lb n="pst_085.012"/> ist und daß sie auch keiner Begründung bedarf (4). <lb n="pst_085.013"/> Eben deshalb aber legt sie auch in den Hörern keinen <lb n="pst_085.014"/> Grund und stiftet keine Tradition. Der Stil jedes Lieds <lb n="pst_085.015"/> ist einzigartig und soll grundsätzlich nicht nachgeahmt <lb n="pst_085.016"/> werden. Die Stimmung ist durchaus individuell und <lb n="pst_085.017"/> kann nur Gleichgestimmte vereinigen, aber keine Gemeinschaft, <lb n="pst_085.018"/> im umfassenden Sinne des Wortes, bilden. <lb n="pst_085.019"/> Es ist auch nicht möglich, auf Grund eines Liedes eine <lb n="pst_085.020"/> Erfahrung zu gewinnen, die sich anderwärts wieder bewährt. <lb n="pst_085.021"/> Man kann nicht reifen an reiner Lyrik, weil sie <lb n="pst_085.022"/> durchaus zufällig ist. Ein Zufall hat keine Verantwortung. <lb n="pst_085.023"/> Auch Verantwortung findet ja immer nur statt, <lb n="pst_085.024"/> wo ein Gegenüber besteht.</p> <lb n="pst_085.025"/> <p> Der Lyriker also baut nichts auf, aber freilich zerstört <lb n="pst_085.026"/> er auch nichts. Eine Tragödie kann den Glauben <lb n="pst_085.027"/> zerstören, indem sie Widersprüche im Weltbild eines <lb n="pst_085.028"/> Geschlechts aufdeckt (vergleiche Seite 199). Der Lyriker, <lb n="pst_085.029"/> der vom Strom des Daseins getragen wird und in <lb n="pst_085.030"/> jedem Moment den früheren Moment vergißt, der also <lb n="pst_085.031"/> keinen Zusammenhang herstellt, wird auch des Widerspruchs </p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [85/0089]
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sind Küsse, die man der Welt gibt; aber aus bloßen pst_085.002
Küssen entstehen keine Kinder». Das ist so scherzhaft pst_085.003
und ergiebig wie vieles, was Goethe in ästhetischen pst_085.004
Fragen zum Besten gegeben hat. Er meint zunächst – pst_085.005
um im Bilde zu bleiben – daß Lyrisches nicht gezeugt, pst_085.006
nicht ausgetragen und nicht geboren wird. Zeugen, pst_085.007
Austragen und Gebären, das träfe nur zu auf ein Dichten, pst_085.008
das im «Stoff» den Keim des Lebens weckt und pst_085.009
ein Geschöpf allmählich bildet. Goethe meint aber weiterhin, pst_085.010
es werde im Lyrischen nichts begründet. Wir pst_085.011
haben gesehen, daß die lyrische Stimmung selber grundlos pst_085.012
ist und daß sie auch keiner Begründung bedarf (4). pst_085.013
Eben deshalb aber legt sie auch in den Hörern keinen pst_085.014
Grund und stiftet keine Tradition. Der Stil jedes Lieds pst_085.015
ist einzigartig und soll grundsätzlich nicht nachgeahmt pst_085.016
werden. Die Stimmung ist durchaus individuell und pst_085.017
kann nur Gleichgestimmte vereinigen, aber keine Gemeinschaft, pst_085.018
im umfassenden Sinne des Wortes, bilden. pst_085.019
Es ist auch nicht möglich, auf Grund eines Liedes eine pst_085.020
Erfahrung zu gewinnen, die sich anderwärts wieder bewährt. pst_085.021
Man kann nicht reifen an reiner Lyrik, weil sie pst_085.022
durchaus zufällig ist. Ein Zufall hat keine Verantwortung. pst_085.023
Auch Verantwortung findet ja immer nur statt, pst_085.024
wo ein Gegenüber besteht.
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Der Lyriker also baut nichts auf, aber freilich zerstört pst_085.026
er auch nichts. Eine Tragödie kann den Glauben pst_085.027
zerstören, indem sie Widersprüche im Weltbild eines pst_085.028
Geschlechts aufdeckt (vergleiche Seite 199). Der Lyriker, pst_085.029
der vom Strom des Daseins getragen wird und in pst_085.030
jedem Moment den früheren Moment vergißt, der also pst_085.031
keinen Zusammenhang herstellt, wird auch des Widerspruchs
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(2015-09-30T09:54:39Z)
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