Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Staiger, Emil: Grundbegriffe der Poetik. Zürich, 1946.

Bild:
<< vorherige Seite
pst_080.001
"Über'n Garten, durch die Lüfte pst_080.002
Hört' ich Wandervögel zieh'n, pst_080.003
Das bedeutet Frühlingsdüfte, pst_080.004
Unten fängt's schon an zu blühn.
pst_080.005
Jauchzen möcht' ich, möchte weinen, pst_080.006
Ist mir's doch, als könnt's nicht sein! pst_080.007
Alte Wunder wieder scheinen pst_080.008
Mit dem Mondesglanz herein.
pst_080.009
Und der Mond, die Sterne sagen's, pst_080.010
Und in Träumen rauscht's der Hain, pst_080.011
Und die Nachtigallen schlagen's: pst_080.012
Sie ist deine, sie ist dein!"
pst_080.013

Nur wo ein Lied mit Kunstverstand ausgeführt ist, pst_080.014
wird man sagen dürfen, der Dichter fasse die Stimmung pst_080.015
so zusammen, weil er schließen wolle. Wo die pst_080.016
Eingebung, das Lyrisch-Unwillkürliche waltet, gilt pst_080.017
eher das Umgekehrte: Weil der Dichter die Stimmung pst_080.018
nun übersieht und benennen kann, ist das Lied zu pst_080.019
Ende.

pst_080.020

In entgegengesetzter Richtung gehen jene Gedichte pst_080.021
aus, denen am Ende die Sprache versagt. Rilke hat diese pst_080.022
Möglichkeit manieristisch immer wieder erprobt, etwa pst_080.023
im "Abend in Skane" (nach der Fassung im "Buch der pst_080.024
Bilder"), wo es zuletzt von dem abendlichen Himmel pst_080.025
heißt:

pst_080.026
"Wunderlicher Bau, pst_080.027
In sich bewegt und von sich selbst gehalten, pst_080.028
Gestalten bildend, Riesenflügel, Falten pst_080.029
und Hochgebirge vor den ersten Sternen
pst_080.001
«Über'n Garten, durch die Lüfte pst_080.002
Hört' ich Wandervögel zieh'n, pst_080.003
Das bedeutet Frühlingsdüfte, pst_080.004
Unten fängt's schon an zu blühn.
pst_080.005
Jauchzen möcht' ich, möchte weinen, pst_080.006
Ist mir's doch, als könnt's nicht sein! pst_080.007
Alte Wunder wieder scheinen pst_080.008
Mit dem Mondesglanz herein.
pst_080.009
Und der Mond, die Sterne sagen's, pst_080.010
Und in Träumen rauscht's der Hain, pst_080.011
Und die Nachtigallen schlagen's: pst_080.012
Sie ist deine, sie ist dein!»
pst_080.013

  Nur wo ein Lied mit Kunstverstand ausgeführt ist, pst_080.014
wird man sagen dürfen, der Dichter fasse die Stimmung pst_080.015
so zusammen, weil er schließen wolle. Wo die pst_080.016
Eingebung, das Lyrisch-Unwillkürliche waltet, gilt pst_080.017
eher das Umgekehrte: Weil der Dichter die Stimmung pst_080.018
nun übersieht und benennen kann, ist das Lied zu pst_080.019
Ende.

pst_080.020

  In entgegengesetzter Richtung gehen jene Gedichte pst_080.021
aus, denen am Ende die Sprache versagt. Rilke hat diese pst_080.022
Möglichkeit manieristisch immer wieder erprobt, etwa pst_080.023
im «Abend in Skåne» (nach der Fassung im «Buch der pst_080.024
Bilder»), wo es zuletzt von dem abendlichen Himmel pst_080.025
heißt:

pst_080.026
«Wunderlicher Bau, pst_080.027
In sich bewegt und von sich selbst gehalten, pst_080.028
Gestalten bildend, Riesenflügel, Falten pst_080.029
und Hochgebirge vor den ersten Sternen
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <pb facs="#f0084" n="80"/>
          <lb n="pst_080.001"/>
          <lg>
            <l>«Über'n Garten, durch die Lüfte</l>
            <lb n="pst_080.002"/>
            <l>Hört' ich Wandervögel zieh'n,</l>
            <lb n="pst_080.003"/>
            <l>Das bedeutet Frühlingsdüfte,</l>
            <lb n="pst_080.004"/>
            <l>Unten fängt's schon an zu blühn. </l>
          </lg>
          <lg>
            <lb n="pst_080.005"/>
            <l>Jauchzen möcht' ich, möchte weinen,</l>
            <lb n="pst_080.006"/>
            <l>Ist mir's doch, als könnt's nicht sein!</l>
            <lb n="pst_080.007"/>
            <l>Alte Wunder wieder scheinen</l>
            <lb n="pst_080.008"/>
            <l>Mit dem Mondesglanz herein. </l>
          </lg>
          <lg>
            <lb n="pst_080.009"/>
            <l>Und der Mond, die Sterne sagen's,</l>
            <lb n="pst_080.010"/>
            <l>Und in Träumen rauscht's der Hain,</l>
            <lb n="pst_080.011"/>
            <l>Und die Nachtigallen schlagen's:</l>
            <lb n="pst_080.012"/>
            <l>Sie ist deine, sie ist dein!»</l>
          </lg>
          <lb n="pst_080.013"/>
          <p>  Nur wo ein Lied mit Kunstverstand ausgeführt ist, <lb n="pst_080.014"/>
wird man sagen dürfen, der Dichter fasse die Stimmung <lb n="pst_080.015"/>
so zusammen, weil er schließen wolle. Wo die <lb n="pst_080.016"/>
Eingebung, das Lyrisch-Unwillkürliche waltet, gilt <lb n="pst_080.017"/>
eher das Umgekehrte: Weil der Dichter die Stimmung <lb n="pst_080.018"/>
nun übersieht und benennen kann, ist das Lied zu <lb n="pst_080.019"/>
Ende.</p>
          <lb n="pst_080.020"/>
          <p>  In entgegengesetzter Richtung gehen jene Gedichte <lb n="pst_080.021"/>
aus, denen am Ende die Sprache versagt. Rilke hat diese <lb n="pst_080.022"/>
Möglichkeit manieristisch immer wieder erprobt, etwa <lb n="pst_080.023"/>
im «Abend in Skåne» (nach der Fassung im «Buch der <lb n="pst_080.024"/>
Bilder»), wo es zuletzt von dem abendlichen Himmel <lb n="pst_080.025"/>
heißt:</p>
          <lb n="pst_080.026"/>
          <lg>
            <l>«Wunderlicher Bau,</l>
            <lb n="pst_080.027"/>
            <l>In sich bewegt und von sich selbst gehalten,</l>
            <lb n="pst_080.028"/>
            <l>Gestalten bildend, Riesenflügel, Falten</l>
            <lb n="pst_080.029"/>
            <l>und Hochgebirge vor den ersten Sternen</l>
          </lg>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[80/0084] pst_080.001 «Über'n Garten, durch die Lüfte pst_080.002 Hört' ich Wandervögel zieh'n, pst_080.003 Das bedeutet Frühlingsdüfte, pst_080.004 Unten fängt's schon an zu blühn. pst_080.005 Jauchzen möcht' ich, möchte weinen, pst_080.006 Ist mir's doch, als könnt's nicht sein! pst_080.007 Alte Wunder wieder scheinen pst_080.008 Mit dem Mondesglanz herein. pst_080.009 Und der Mond, die Sterne sagen's, pst_080.010 Und in Träumen rauscht's der Hain, pst_080.011 Und die Nachtigallen schlagen's: pst_080.012 Sie ist deine, sie ist dein!» pst_080.013   Nur wo ein Lied mit Kunstverstand ausgeführt ist, pst_080.014 wird man sagen dürfen, der Dichter fasse die Stimmung pst_080.015 so zusammen, weil er schließen wolle. Wo die pst_080.016 Eingebung, das Lyrisch-Unwillkürliche waltet, gilt pst_080.017 eher das Umgekehrte: Weil der Dichter die Stimmung pst_080.018 nun übersieht und benennen kann, ist das Lied zu pst_080.019 Ende. pst_080.020   In entgegengesetzter Richtung gehen jene Gedichte pst_080.021 aus, denen am Ende die Sprache versagt. Rilke hat diese pst_080.022 Möglichkeit manieristisch immer wieder erprobt, etwa pst_080.023 im «Abend in Skåne» (nach der Fassung im «Buch der pst_080.024 Bilder»), wo es zuletzt von dem abendlichen Himmel pst_080.025 heißt: pst_080.026 «Wunderlicher Bau, pst_080.027 In sich bewegt und von sich selbst gehalten, pst_080.028 Gestalten bildend, Riesenflügel, Falten pst_080.029 und Hochgebirge vor den ersten Sternen

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Technische Universität Darmstadt, Universität Stuttgart: Bereitstellung der Scan-Digitalisate und der Texttranskription. (2015-09-30T09:54:39Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
TextGrid/DARIAH-DE: Langfristige Bereitstellung der TextGrid/DARIAH-DE-Repository-Ausgabe
Stefan Alscher: Bearbeitung der digitalen Edition - Annotation des Metaphernbegriffs
Hans-Werner Bartz: Bearbeitung der digitalen Edition - Tustep-Unterstützung
Michael Bender: Bearbeitung der digitalen Edition - Koordination, Konzeption (Korpusaufbau, Annotationsschema, Workflow, Publikationsformen), Annotation des Metaphernbegriffs, XML-Auszeichnung)
Leonie Blumenschein: Bearbeitung der digitalen Edition - XML-Auszeichnung
David Glück: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung, Annotation des Metaphernbegriffs, XSL+JavaScript
Constanze Hahn: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung
Philipp Hegel: Bearbeitung der digitalen Edition - XML/XSL/CSS-Unterstützung
Andrea Rapp: ePoetics-Projekt-Koordination

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: keine Angabe; Druckfehler: keine Angabe; fremdsprachliches Material: gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage; i/j in Fraktur: wie Vorlage; I/J in Fraktur: wie Vorlage; Kolumnentitel: nicht übernommen; Kustoden: nicht übernommen; langes s (ſ): wie Vorlage; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): wie Vorlage; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: nicht übernommen; u/v bzw. U/V: wie Vorlage; Vokale mit übergest. e: wie Vorlage; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: ja;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/staiger_poetik_1946
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/staiger_poetik_1946/84
Zitationshilfe: Staiger, Emil: Grundbegriffe der Poetik. Zürich, 1946, S. 80. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/staiger_poetik_1946/84>, abgerufen am 27.04.2024.