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Staiger, Emil: Grundbegriffe der Poetik. Zürich, 1946.

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pst_079.001
sich mit ihrem müden, schwimmenden Haupt in der pst_079.002
sommermüden, schwimmenden Luft, das Niedersinken pst_079.003
ihres Daseins im Niedergaukeln von Düften und Stimmen pst_079.004
fühlt - nach diesen Strophen fährt sie fort:

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"Stunden, flüchtger ihr als der Kuß pst_079.006
Eines Strahls auf den trauernden See ..."
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redet nun über ihr Gefühl und denkt über ihre Lage pst_079.008
nach. Sie verläßt damit die Sphäre des Lieds. Die zweite pst_079.009
Hälfte ist nüchtern und, um die Nüchternheit zu verschleiern, pst_079.010
ein wenig rhetorisch aufgehöht.

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Was aber hier bedauerlich ist, weil es zu früh eintritt pst_079.012
und noch zu lange durchgehalten wird, das kann in wenigen pst_079.013
Versen oder auch nur in einer Zeile ein Gedicht pst_079.014
unter Umständen sinnvoll beschließen. Auch dafür ist pst_079.015
"Wanderers Nachtlied" ein Beispiel:

pst_079.016
"Warte nur, balde pst_079.017
Ruhest du auch."
pst_079.018

Hier wird dem Dichter selbst der seelische Sinn der pst_079.019
Abendlandschaft klar. Im Augenblick des Verstehens pst_079.020
aber hört das lyrische Dichten auf; der Zustand wird pst_079.021
zum Gegenstand. Auch Eichendorff sagt oft zuletzt, wo pst_079.022
es mit der Erinnerung hinauswill, so im "Zwielicht", pst_079.023
wo sich als Einheit der scheinbar disparaten Traumbilder pst_079.024
am Schluß, nach einem Gedankenstrich der Besinnung, pst_079.025
plötzlich ergibt:

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"Hüte dich, bleib wach und munter!"
pst_079.027

Dies war in jeder Zeile verborgen. Es tritt hervor, pst_079.028
und das Lied ist aus. Ebenso in der "Frühlingsnacht":

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sich mit ihrem müden, schwimmenden Haupt in der pst_079.002
sommermüden, schwimmenden Luft, das Niedersinken pst_079.003
ihres Daseins im Niedergaukeln von Düften und Stimmen pst_079.004
fühlt – nach diesen Strophen fährt sie fort:

pst_079.005
«Stunden, flüchtger ihr als der Kuß pst_079.006
Eines Strahls auf den trauernden See ...»
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redet nun über ihr Gefühl und denkt über ihre Lage pst_079.008
nach. Sie verläßt damit die Sphäre des Lieds. Die zweite pst_079.009
Hälfte ist nüchtern und, um die Nüchternheit zu verschleiern, pst_079.010
ein wenig rhetorisch aufgehöht.

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  Was aber hier bedauerlich ist, weil es zu früh eintritt pst_079.012
und noch zu lange durchgehalten wird, das kann in wenigen pst_079.013
Versen oder auch nur in einer Zeile ein Gedicht pst_079.014
unter Umständen sinnvoll beschließen. Auch dafür ist pst_079.015
«Wanderers Nachtlied» ein Beispiel:

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«Warte nur, balde pst_079.017
Ruhest du auch.»
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  Hier wird dem Dichter selbst der seelische Sinn der pst_079.019
Abendlandschaft klar. Im Augenblick des Verstehens pst_079.020
aber hört das lyrische Dichten auf; der Zustand wird pst_079.021
zum Gegenstand. Auch Eichendorff sagt oft zuletzt, wo pst_079.022
es mit der Erinnerung hinauswill, so im «Zwielicht», pst_079.023
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plötzlich ergibt:

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«Hüte dich, bleib wach und munter!»
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und das Lied ist aus. Ebenso in der «Frühlingsnacht»:

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Zitationshilfe: Staiger, Emil: Grundbegriffe der Poetik. Zürich, 1946, S. 79. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/staiger_poetik_1946/83>, abgerufen am 27.04.2024.