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Staiger, Emil: Grundbegriffe der Poetik. Zürich, 1946.

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und plötzlich, da: ein Tor in solche Fernen, pst_081.002
wie sie vielleicht nur Vögel kennen ..."

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Die Punkte bedeuten, daß etwas noch aussteht, etwas pst_081.004
noch gesagt werden müßte, der Vers nämlich, der auf pst_081.005
"kennen" reimt, daß aber dies Letzte unsäglich sei. pst_081.006
Eine Gebärde der Ohnmacht, ein Verzicht vor dem allzu pst_081.007
Innigen, der uns bei Rilke manchmal geziert anmutet, pst_081.008
der aber doch zweifellos tief im Wesen des Lyrischen pst_081.009
begründet ist. Der Dichter, der den Bereich des in der pst_081.010
Sprache Faßlichen unter den Neueren wohl am meisten pst_081.011
erweitert hat, gefällt sich darin, denen Recht zu geben, pst_081.012
die sagen, nie geschriebene, unaussprechliche Verse pst_081.013
seien die schönsten. In dieser Frage scheiden sich sonst pst_081.014
die Künstler und die Dilettanten, die Meister des Worts pst_081.015
und jene, die überschwenglich fühlen, doch ihr Gefühl pst_081.016
nicht auszusprechen imstande sind. Eine Verständigung pst_081.017
scheint unmöglich. Der Künstler stellt sich auf den pst_081.018
Standpunkt, alle Dichtung sei Sprachkunstwerk. Was pst_081.019
nicht ausgesprochen werde, sei überhaupt keine Poesie. pst_081.020
Er macht damit auf den Widerspruch im Begriff des pst_081.021
"stummen Wortes", des "ungesprochenen Verses" aufmerksam pst_081.022
und behält - als Dichter - zweifellos Recht. pst_081.023
Der fühlende Dilettant jedoch hat gleichfalls Recht, pst_081.024
wenn er meint, das reine Gefühl sei keiner Sprache pst_081.025
fähig. Er darf sich berufen auf Schillers Wort:

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"Spricht die Seele, so spricht, ach, schon die Seele pst_081.027
nicht mehr."
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Also zeigt sich, daß der Streit um jene Unterscheidung pst_081.029
geht, die schon das Vorwort dieses Versuchs einer

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und plötzlich, da: ein Tor in solche Fernen, pst_081.002
wie sie vielleicht nur Vögel kennen ...»

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  Die Punkte bedeuten, daß etwas noch aussteht, etwas pst_081.004
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«kennen» reimt, daß aber dies Letzte unsäglich sei. pst_081.006
Eine Gebärde der Ohnmacht, ein Verzicht vor dem allzu pst_081.007
Innigen, der uns bei Rilke manchmal geziert anmutet, pst_081.008
der aber doch zweifellos tief im Wesen des Lyrischen pst_081.009
begründet ist. Der Dichter, der den Bereich des in der pst_081.010
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«stummen Wortes», des «ungesprochenen Verses» aufmerksam pst_081.022
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Der fühlende Dilettant jedoch hat gleichfalls Recht, pst_081.024
wenn er meint, das reine Gefühl sei keiner Sprache pst_081.025
fähig. Er darf sich berufen auf Schillers Wort:

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«Spricht die Seele, so spricht, ach, schon die Seele pst_081.027
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Zitationshilfe: Staiger, Emil: Grundbegriffe der Poetik. Zürich, 1946, S. 81. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/staiger_poetik_1946/85>, abgerufen am 27.04.2024.