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Staiger, Emil: Grundbegriffe der Poetik. Zürich, 1946.

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um nur erste Namen zu nennen: Sappho, Petrarca, pst_075.002
Goethe, Keats. Der epische Dichter ist, oft schon in jungen pst_075.003
Jahren, ein alter Mann. An großen Dramatikern, pst_075.004
etwa an Kleist oder Hebbel, erschrecken, zumal im pst_075.005
Umgang mit Frauen, harte und grausame Züge. Der pst_075.006
lyrische Dichter dagegen ist "weich". "Weich" bedeutet, pst_075.007
daß die Konturen des Selbst, des eigenen Daseins pst_075.008
nicht fest sind:

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"Vor ihrem Blick, wie vor der Sonne Walten, pst_075.010
Vor ihrem Atem, wie vor Frühlingslüften, pst_075.011
Zerschmilzt, so längst sich eisig starr gehalten, pst_075.012
Der Selbstsinn tief in winterlichen Grüften; pst_075.013
Kein Eigennutz, kein Eigenwille dauert, pst_075.014
Vor ihrem Kommen sind sie weggeschauert."
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Der Selbstsinn schmilzt. So rühmen wir an der lyrischen pst_075.016
Sprache den "Schmelz". Schmelz ist Verflüssigung pst_075.017
des Festen. Uns schmelzt die Liebe und das Lied. pst_075.018
Drum ist Musik, nach Shakespeares Wort in "Was ihr pst_075.019
wollt", "der Liebe Nahrung", und "denkt die Liebe", pst_075.020
nach Tieck, "in Tönen". Die Sprache entfaltet hier den pst_075.021
ganzen Reichtum des lyrischen Ineinander. Die altbewährte pst_075.022
Formel lautet: "Du bist mein, ich bin dein". pst_075.023
Darin spricht sich "Hingabe" aus. Der Liebende "vertieft pst_075.024
sich" - welch ein Wort! - ins Antlitz der Geliebten. pst_075.025
Die Liebenden sind eins im Frühling und in der Nacht, pst_075.026
die beide umfängt, den störenden Körper dem Blick pst_075.027
entzieht und die Fühlbarkeit des Leibes, der in der Umarmung pst_075.028
nur einer ist, erhöht.

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Alle Momente des Lyrischen: Musik, Verflüssigung, pst_075.030
Ineinander, hat Brentano im Mythos von der Loreley

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um nur erste Namen zu nennen: Sappho, Petrarca, pst_075.002
Goethe, Keats. Der epische Dichter ist, oft schon in jungen pst_075.003
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Zerschmilzt, so längst sich eisig starr gehalten, pst_075.012
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Kein Eigennutz, kein Eigenwille dauert, pst_075.014
Vor ihrem Kommen sind sie weggeschauert.»
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Zitationshilfe: Staiger, Emil: Grundbegriffe der Poetik. Zürich, 1946, S. 75. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/staiger_poetik_1946/79>, abgerufen am 27.04.2024.