Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Staiger, Emil: Grundbegriffe der Poetik. Zürich, 1946.

Bild:
<< vorherige Seite

pst_076.001
zusammengefaßt und der späteren Romantik anvertraut. pst_076.002
Ihr Name schon, bestehend aus Vokalen und Liquiden, pst_076.003
tönenden und flüssigen Lauten, ist Musik und pst_076.004
als solche eingegeben durch den Namen des Felsens bei pst_076.005
Bacharach. Ihr Name ist schmelzend wie ihre Augen, pst_076.006
und wie ihre Augen schmelzt ihr Gesang. Ein Dämon pst_076.007
des flüssigen Elements, wohnt sie im Strom, im Rauschen pst_076.008
des Walds, in allem, was gleitet, wogt und pst_076.009
schwimmt. Jeder verfällt ihr, der sie hört oder schimmern pst_076.010
sieht auf dem Grunde des Rheins. Vor ihr ist pst_076.011
keine Freiheit mehr, kein Eigenwille - wie denn der pst_076.012
lyrische Dichter gewiß der unfreieste ist, hingegeben, pst_076.013
außer sich, getragen von Wogen des Gefühls.

pst_076.014

Wohl ist noch andere Liebe möglich als diese lyrische, pst_076.015
Liebe des Mannes, der sich hingibt und dennoch pst_076.016
bewahrt und so der Liebe erst Dauer verleiht1. Aber die pst_076.017
Liebe trunkner Jugend, die weltvergessene, die sich ergießt pst_076.018
und alles Eigene ausschütten mag, gehört zur pst_076.019
Sphäre des lyrischen Daseins. Von ihr erzählt Gottfried pst_076.020
Keller am Schluß der Novelle "Romeo und Julia auf dem pst_076.021
Dorfe", wo die Liebenden die auseinandergesetzte Welt pst_076.022
verlassen, dem gleitenden Strom sich anvertrauen und pst_076.023
in der Umarmung untergehen. Der Tod und solche pst_076.024
Liebe gehören zusammen als Untergang des Selbst.

pst_076.025
7.
pst_076.026

Wieder werden wir hier auf die Kürze lyrischer Dichtung pst_076.027
aufmerksam. Wir haben früher schon vom Momentanen

1 pst_076.028
Vgl. dazu Ludwig Binswanger: Grundformen und Erkenntnis pst_076.029
menschlichen Daseins, Zürich 1942.

pst_076.001
zusammengefaßt und der späteren Romantik anvertraut. pst_076.002
Ihr Name schon, bestehend aus Vokalen und Liquiden, pst_076.003
tönenden und flüssigen Lauten, ist Musik und pst_076.004
als solche eingegeben durch den Namen des Felsens bei pst_076.005
Bacharach. Ihr Name ist schmelzend wie ihre Augen, pst_076.006
und wie ihre Augen schmelzt ihr Gesang. Ein Dämon pst_076.007
des flüssigen Elements, wohnt sie im Strom, im Rauschen pst_076.008
des Walds, in allem, was gleitet, wogt und pst_076.009
schwimmt. Jeder verfällt ihr, der sie hört oder schimmern pst_076.010
sieht auf dem Grunde des Rheins. Vor ihr ist pst_076.011
keine Freiheit mehr, kein Eigenwille – wie denn der pst_076.012
lyrische Dichter gewiß der unfreieste ist, hingegeben, pst_076.013
außer sich, getragen von Wogen des Gefühls.

pst_076.014

  Wohl ist noch andere Liebe möglich als diese lyrische, pst_076.015
Liebe des Mannes, der sich hingibt und dennoch pst_076.016
bewahrt und so der Liebe erst Dauer verleiht1. Aber die pst_076.017
Liebe trunkner Jugend, die weltvergessene, die sich ergießt pst_076.018
und alles Eigene ausschütten mag, gehört zur pst_076.019
Sphäre des lyrischen Daseins. Von ihr erzählt Gottfried pst_076.020
Keller am Schluß der Novelle «Romeo und Julia auf dem pst_076.021
Dorfe», wo die Liebenden die auseinandergesetzte Welt pst_076.022
verlassen, dem gleitenden Strom sich anvertrauen und pst_076.023
in der Umarmung untergehen. Der Tod und solche pst_076.024
Liebe gehören zusammen als Untergang des Selbst.

pst_076.025
7.
pst_076.026

  Wieder werden wir hier auf die Kürze lyrischer Dichtung pst_076.027
aufmerksam. Wir haben früher schon vom Momentanen

1 pst_076.028
Vgl. dazu Ludwig Binswanger: Grundformen und Erkenntnis pst_076.029
menschlichen Daseins, Zürich 1942.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0080" n="76"/><lb n="pst_076.001"/>
zusammengefaßt und der späteren Romantik anvertraut. <lb n="pst_076.002"/>
Ihr Name schon, bestehend aus Vokalen und Liquiden, <lb n="pst_076.003"/>
tönenden und flüssigen Lauten, ist Musik und <lb n="pst_076.004"/>
als solche eingegeben durch den Namen des Felsens bei <lb n="pst_076.005"/>
Bacharach. Ihr Name ist schmelzend wie ihre Augen, <lb n="pst_076.006"/>
und wie ihre Augen schmelzt ihr Gesang. Ein Dämon <lb n="pst_076.007"/>
des flüssigen Elements, wohnt sie im Strom, im Rauschen <lb n="pst_076.008"/>
des Walds, in allem, was gleitet, wogt und <lb n="pst_076.009"/>
schwimmt. Jeder verfällt ihr, der sie hört oder schimmern <lb n="pst_076.010"/>
sieht auf dem Grunde des Rheins. Vor ihr ist <lb n="pst_076.011"/>
keine Freiheit mehr, kein Eigenwille &#x2013; wie denn der <lb n="pst_076.012"/>
lyrische Dichter gewiß der unfreieste ist, hingegeben, <lb n="pst_076.013"/>
außer sich, getragen von Wogen des Gefühls.</p>
          <lb n="pst_076.014"/>
          <p>  Wohl ist noch andere Liebe möglich als diese lyrische, <lb n="pst_076.015"/>
Liebe des Mannes, der sich hingibt und dennoch <lb n="pst_076.016"/>
bewahrt und so der Liebe erst Dauer verleiht<note xml:id="PST_076_1" place="foot" n="1"><lb n="pst_076.028"/>
Vgl. dazu Ludwig Binswanger: Grundformen und Erkenntnis <lb n="pst_076.029"/>
menschlichen Daseins, Zürich 1942.</note>. Aber die <lb n="pst_076.017"/>
Liebe trunkner Jugend, die weltvergessene, die sich ergießt <lb n="pst_076.018"/>
und alles Eigene ausschütten mag, gehört zur <lb n="pst_076.019"/>
Sphäre des lyrischen Daseins. Von ihr erzählt Gottfried <lb n="pst_076.020"/>
Keller am Schluß der Novelle «Romeo und Julia auf dem <lb n="pst_076.021"/>
Dorfe», wo die Liebenden die auseinandergesetzte Welt <lb n="pst_076.022"/>
verlassen, dem gleitenden Strom sich anvertrauen und <lb n="pst_076.023"/>
in der Umarmung untergehen. Der Tod und solche <lb n="pst_076.024"/>
Liebe gehören zusammen als Untergang des Selbst.</p>
        </div>
        <div n="2">
          <lb n="pst_076.025"/>
          <head> <hi rendition="#c">7.</hi> </head>
          <lb n="pst_076.026"/>
          <p>  Wieder werden wir hier auf die Kürze lyrischer Dichtung <lb n="pst_076.027"/>
aufmerksam. Wir haben früher schon vom Momentanen
</p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[76/0080] pst_076.001 zusammengefaßt und der späteren Romantik anvertraut. pst_076.002 Ihr Name schon, bestehend aus Vokalen und Liquiden, pst_076.003 tönenden und flüssigen Lauten, ist Musik und pst_076.004 als solche eingegeben durch den Namen des Felsens bei pst_076.005 Bacharach. Ihr Name ist schmelzend wie ihre Augen, pst_076.006 und wie ihre Augen schmelzt ihr Gesang. Ein Dämon pst_076.007 des flüssigen Elements, wohnt sie im Strom, im Rauschen pst_076.008 des Walds, in allem, was gleitet, wogt und pst_076.009 schwimmt. Jeder verfällt ihr, der sie hört oder schimmern pst_076.010 sieht auf dem Grunde des Rheins. Vor ihr ist pst_076.011 keine Freiheit mehr, kein Eigenwille – wie denn der pst_076.012 lyrische Dichter gewiß der unfreieste ist, hingegeben, pst_076.013 außer sich, getragen von Wogen des Gefühls. pst_076.014   Wohl ist noch andere Liebe möglich als diese lyrische, pst_076.015 Liebe des Mannes, der sich hingibt und dennoch pst_076.016 bewahrt und so der Liebe erst Dauer verleiht 1. Aber die pst_076.017 Liebe trunkner Jugend, die weltvergessene, die sich ergießt pst_076.018 und alles Eigene ausschütten mag, gehört zur pst_076.019 Sphäre des lyrischen Daseins. Von ihr erzählt Gottfried pst_076.020 Keller am Schluß der Novelle «Romeo und Julia auf dem pst_076.021 Dorfe», wo die Liebenden die auseinandergesetzte Welt pst_076.022 verlassen, dem gleitenden Strom sich anvertrauen und pst_076.023 in der Umarmung untergehen. Der Tod und solche pst_076.024 Liebe gehören zusammen als Untergang des Selbst. pst_076.025 7. pst_076.026   Wieder werden wir hier auf die Kürze lyrischer Dichtung pst_076.027 aufmerksam. Wir haben früher schon vom Momentanen 1 pst_076.028 Vgl. dazu Ludwig Binswanger: Grundformen und Erkenntnis pst_076.029 menschlichen Daseins, Zürich 1942.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Technische Universität Darmstadt, Universität Stuttgart: Bereitstellung der Scan-Digitalisate und der Texttranskription. (2015-09-30T09:54:39Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
TextGrid/DARIAH-DE: Langfristige Bereitstellung der TextGrid/DARIAH-DE-Repository-Ausgabe
Stefan Alscher: Bearbeitung der digitalen Edition - Annotation des Metaphernbegriffs
Hans-Werner Bartz: Bearbeitung der digitalen Edition - Tustep-Unterstützung
Michael Bender: Bearbeitung der digitalen Edition - Koordination, Konzeption (Korpusaufbau, Annotationsschema, Workflow, Publikationsformen), Annotation des Metaphernbegriffs, XML-Auszeichnung)
Leonie Blumenschein: Bearbeitung der digitalen Edition - XML-Auszeichnung
David Glück: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung, Annotation des Metaphernbegriffs, XSL+JavaScript
Constanze Hahn: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung
Philipp Hegel: Bearbeitung der digitalen Edition - XML/XSL/CSS-Unterstützung
Andrea Rapp: ePoetics-Projekt-Koordination

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: keine Angabe; Druckfehler: keine Angabe; fremdsprachliches Material: gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage; i/j in Fraktur: wie Vorlage; I/J in Fraktur: wie Vorlage; Kolumnentitel: nicht übernommen; Kustoden: nicht übernommen; langes s (ſ): wie Vorlage; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): wie Vorlage; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: nicht übernommen; u/v bzw. U/V: wie Vorlage; Vokale mit übergest. e: wie Vorlage; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: ja;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/staiger_poetik_1946
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/staiger_poetik_1946/80
Zitationshilfe: Staiger, Emil: Grundbegriffe der Poetik. Zürich, 1946, S. 76. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/staiger_poetik_1946/80>, abgerufen am 27.04.2024.