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Staiger, Emil: Grundbegriffe der Poetik. Zürich, 1946.

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sich identisch. Er schließt die Augen - muei - vor dem pst_069.002
Vielen, zieht die Fülle in Eines und hebt die Zeit im pst_069.003
Ewigen als dem "sunder warumbe" Gottes auf.

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Das "sunder warumbe" des lyrisch gestimmten Menschen pst_069.005
dagegen ist eng begrenzt. Er fühlt sich eins mit pst_069.006
dieser Landschaft, mit diesem Lächeln, mit diesem pst_069.007
Ton, nicht also mit dem Ewigen, sondern gerade mit pst_069.008
dem Vergänglichsten. Die Wolke zerfließt, das Lächeln pst_069.009
erstirbt.

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"Es wandelt, was wir schauen, pst_069.011
Tag sinkt ins Abendrot ..."
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Und also wandelt sich auch die Seele. Der lyrische Dichter pst_069.013
ist bewegt, indes der Mystiker eine unanfechtbare pst_069.014
Ruhe in Gott bewahrt. Wohl kann es sein, daß sich die pst_069.015
lyrische Stimmung zur mystischen Ruhe klärt, wie pst_069.016
immer im Leben eins unmerklich ins andere übergeht. pst_069.017
Die Wissenschaft aber, die zur Scheidung der Begriffe pst_069.018
genötigt und verpflichtet ist, muß deutlich sagen, was pst_069.019
"lyrisch", was "mystisch" heißen soll, damit im fließenden, pst_069.020
schwankenden Dasein Orientierung möglich pst_069.021
sei.

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Was hier in abstrakter Sprache ausgeführt wurde, ist pst_069.024
den lyrischen Dichtern längst viel unmittelbarer bekannt. pst_069.025
Wir müssen uns nur gewöhnen, ernst zu nehmen, pst_069.026
was in Gedichten steht, und ein lyrisches Wort pst_069.027
ebenso als Zeugnis des Menschen gelten zu lassen wie pst_069.028
eine dramatische Sentenz. Wieder dürfen wir uns zunächst pst_069.029
auf Vischer, den feinsten Kenner des Lyrischen

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sich identisch. Er schließt die Augen – μύει – vor dem pst_069.002
Vielen, zieht die Fülle in Eines und hebt die Zeit im pst_069.003
Ewigen als dem «sunder warumbe» Gottes auf.

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dagegen ist eng begrenzt. Er fühlt sich eins mit pst_069.006
dieser Landschaft, mit diesem Lächeln, mit diesem pst_069.007
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dem Vergänglichsten. Die Wolke zerfließt, das Lächeln pst_069.009
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«Es wandelt, was wir schauen, pst_069.011
Tag sinkt ins Abendrot ...»
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Und also wandelt sich auch die Seele. Der lyrische Dichter pst_069.013
ist bewegt, indes der Mystiker eine unanfechtbare pst_069.014
Ruhe in Gott bewahrt. Wohl kann es sein, daß sich die pst_069.015
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«lyrisch», was «mystisch» heißen soll, damit im fließenden, pst_069.020
schwankenden Dasein Orientierung möglich pst_069.021
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Wir müssen uns nur gewöhnen, ernst zu nehmen, pst_069.026
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Zitationshilfe: Staiger, Emil: Grundbegriffe der Poetik. Zürich, 1946, S. 69. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/staiger_poetik_1946/73>, abgerufen am 27.04.2024.