Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Staiger, Emil: Grundbegriffe der Poetik. Zürich, 1946.

Bild:
<< vorherige Seite

pst_064.001
Gegensatz von "introvertiert" und "extravertiert" pst_064.002
hat nichts mit dem von "lyrisch" und "episch" pst_064.003
zu schaffen. Ein so ausgesprochen epischer Dichter wie pst_064.004
Spitteler ist introvertiert. Bei Brentano deutet alles auf pst_064.005
den extravertierten Typus.

pst_064.006

Die Rede von "innen" und "außen" entsteht aus der pst_064.007
Guckkastenvorstellung vom Wesen des Menschen: Die pst_064.008
Seele haust im Körper und läßt durch die Sinne die pst_064.009
Außenwelt, zumal durch die Augen die Bilder herein. pst_064.010
So sehr sich heute jedermann gegen diese Vorstellung pst_064.011
ereifert, sie wurzelt tief in unserem Geist und läßt sich pst_064.012
kaum je ganz überwinden. Der Anblick des Menschen, pst_064.013
der vor uns wandelt und körperlich scharf umrissen ist, pst_064.014
aus dessen Augen die Seele leuchtet, legt sie uns immer pst_064.015
wieder nahe. Und freilich, ganz sinnlos ist sie nicht. pst_064.016
Daß wir durch den Körper von einer Außenwelt geschieden pst_064.017
sind, ist eine Erfahrung, die zu einer bestimmten pst_064.018
- der epischen - Stufe gehört (vergleiche Seite 103). pst_064.019
Im Epischen stellt sich der Körper dar. Deshalb gehen pst_064.020
uns im epischen Dasein die Dinge als Außenwelt auf. pst_064.021
Im lyrischen Dasein gilt das nicht. Da gibt es noch keine pst_064.022
Gegenstände. Weil es aber noch keine Gegenstände, pst_064.023
noch keine Objekte gibt, gibt es hier auch noch kein pst_064.024
Subjekt. Und jetzt erkennen wir den Fehler, der die Begriffsverwirrung pst_064.025
verschuldet. Wenn lyrische Dichtung pst_064.026
nicht objektiv ist, so darf sie darum doch nicht subjektiv pst_064.027
heißen. Und wenn sie nicht Außenwelt darstellt, stellt pst_064.028
sie dennoch auch keine Innenwelt dar. Sondern "innen" pst_064.029
und "außen", "subjektiv" und "objektiv" sind in lyrischer pst_064.030
Poesie überhaupt nicht geschieden.

pst_064.031

Es ist bemerkenswert, wie in Vischers Ästhetik diese

pst_064.001
Gegensatz von «introvertiert» und «extravertiert» pst_064.002
hat nichts mit dem von «lyrisch» und «episch» pst_064.003
zu schaffen. Ein so ausgesprochen epischer Dichter wie pst_064.004
Spitteler ist introvertiert. Bei Brentano deutet alles auf pst_064.005
den extravertierten Typus.

pst_064.006

  Die Rede von «innen» und «außen» entsteht aus der pst_064.007
Guckkastenvorstellung vom Wesen des Menschen: Die pst_064.008
Seele haust im Körper und läßt durch die Sinne die pst_064.009
Außenwelt, zumal durch die Augen die Bilder herein. pst_064.010
So sehr sich heute jedermann gegen diese Vorstellung pst_064.011
ereifert, sie wurzelt tief in unserem Geist und läßt sich pst_064.012
kaum je ganz überwinden. Der Anblick des Menschen, pst_064.013
der vor uns wandelt und körperlich scharf umrissen ist, pst_064.014
aus dessen Augen die Seele leuchtet, legt sie uns immer pst_064.015
wieder nahe. Und freilich, ganz sinnlos ist sie nicht. pst_064.016
Daß wir durch den Körper von einer Außenwelt geschieden pst_064.017
sind, ist eine Erfahrung, die zu einer bestimmten pst_064.018
– der epischen – Stufe gehört (vergleiche Seite 103). pst_064.019
Im Epischen stellt sich der Körper dar. Deshalb gehen pst_064.020
uns im epischen Dasein die Dinge als Außenwelt auf. pst_064.021
Im lyrischen Dasein gilt das nicht. Da gibt es noch keine pst_064.022
Gegenstände. Weil es aber noch keine Gegenstände, pst_064.023
noch keine Objekte gibt, gibt es hier auch noch kein pst_064.024
Subjekt. Und jetzt erkennen wir den Fehler, der die Begriffsverwirrung pst_064.025
verschuldet. Wenn lyrische Dichtung pst_064.026
nicht objektiv ist, so darf sie darum doch nicht subjektiv pst_064.027
heißen. Und wenn sie nicht Außenwelt darstellt, stellt pst_064.028
sie dennoch auch keine Innenwelt dar. Sondern «innen» pst_064.029
und «außen», «subjektiv» und «objektiv» sind in lyrischer pst_064.030
Poesie überhaupt nicht geschieden.

pst_064.031

  Es ist bemerkenswert, wie in Vischers Ästhetik diese

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0068" n="64"/><lb n="pst_064.001"/>
Gegensatz von «introvertiert» und «extravertiert» <lb n="pst_064.002"/>
hat nichts mit dem von «lyrisch» und «episch» <lb n="pst_064.003"/>
zu schaffen. Ein so ausgesprochen epischer Dichter wie <lb n="pst_064.004"/>
Spitteler ist introvertiert. Bei Brentano deutet alles auf <lb n="pst_064.005"/>
den extravertierten Typus.</p>
          <lb n="pst_064.006"/>
          <p>  Die Rede von «innen» und «außen» entsteht aus der <lb n="pst_064.007"/>
Guckkastenvorstellung vom Wesen des Menschen: Die <lb n="pst_064.008"/>
Seele haust im Körper und läßt durch die Sinne die <lb n="pst_064.009"/>
Außenwelt, zumal durch die Augen die Bilder herein. <lb n="pst_064.010"/>
So sehr sich heute jedermann gegen diese Vorstellung <lb n="pst_064.011"/>
ereifert, sie wurzelt tief in unserem Geist und läßt sich <lb n="pst_064.012"/>
kaum je ganz überwinden. Der Anblick des Menschen, <lb n="pst_064.013"/>
der vor uns wandelt und körperlich scharf umrissen ist, <lb n="pst_064.014"/>
aus dessen Augen die Seele leuchtet, legt sie uns immer <lb n="pst_064.015"/>
wieder nahe. Und freilich, ganz sinnlos ist sie nicht. <lb n="pst_064.016"/>
Daß wir durch den Körper von einer Außenwelt geschieden <lb n="pst_064.017"/>
sind, ist eine Erfahrung, die zu einer bestimmten <lb n="pst_064.018"/>
&#x2013; der epischen &#x2013; Stufe gehört (vergleiche Seite 103). <lb n="pst_064.019"/>
Im Epischen stellt sich der Körper dar. Deshalb gehen <lb n="pst_064.020"/>
uns im epischen Dasein die Dinge als Außenwelt auf. <lb n="pst_064.021"/>
Im lyrischen Dasein gilt das nicht. Da gibt es noch keine <lb n="pst_064.022"/>
Gegenstände. Weil es aber noch keine Gegenstände, <lb n="pst_064.023"/>
noch keine Objekte gibt, gibt es hier auch noch kein <lb n="pst_064.024"/>
Subjekt. Und jetzt erkennen wir den Fehler, der die Begriffsverwirrung <lb n="pst_064.025"/>
verschuldet. Wenn lyrische Dichtung <lb n="pst_064.026"/>
nicht objektiv ist, so darf sie darum doch nicht subjektiv <lb n="pst_064.027"/>
heißen. Und wenn sie nicht Außenwelt darstellt, stellt <lb n="pst_064.028"/>
sie dennoch auch keine Innenwelt dar. Sondern «innen» <lb n="pst_064.029"/>
und «außen», «subjektiv» und «objektiv» sind in lyrischer <lb n="pst_064.030"/>
Poesie überhaupt nicht geschieden.</p>
          <lb n="pst_064.031"/>
          <p>  Es ist bemerkenswert, wie in Vischers Ästhetik diese
</p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[64/0068] pst_064.001 Gegensatz von «introvertiert» und «extravertiert» pst_064.002 hat nichts mit dem von «lyrisch» und «episch» pst_064.003 zu schaffen. Ein so ausgesprochen epischer Dichter wie pst_064.004 Spitteler ist introvertiert. Bei Brentano deutet alles auf pst_064.005 den extravertierten Typus. pst_064.006   Die Rede von «innen» und «außen» entsteht aus der pst_064.007 Guckkastenvorstellung vom Wesen des Menschen: Die pst_064.008 Seele haust im Körper und läßt durch die Sinne die pst_064.009 Außenwelt, zumal durch die Augen die Bilder herein. pst_064.010 So sehr sich heute jedermann gegen diese Vorstellung pst_064.011 ereifert, sie wurzelt tief in unserem Geist und läßt sich pst_064.012 kaum je ganz überwinden. Der Anblick des Menschen, pst_064.013 der vor uns wandelt und körperlich scharf umrissen ist, pst_064.014 aus dessen Augen die Seele leuchtet, legt sie uns immer pst_064.015 wieder nahe. Und freilich, ganz sinnlos ist sie nicht. pst_064.016 Daß wir durch den Körper von einer Außenwelt geschieden pst_064.017 sind, ist eine Erfahrung, die zu einer bestimmten pst_064.018 – der epischen – Stufe gehört (vergleiche Seite 103). pst_064.019 Im Epischen stellt sich der Körper dar. Deshalb gehen pst_064.020 uns im epischen Dasein die Dinge als Außenwelt auf. pst_064.021 Im lyrischen Dasein gilt das nicht. Da gibt es noch keine pst_064.022 Gegenstände. Weil es aber noch keine Gegenstände, pst_064.023 noch keine Objekte gibt, gibt es hier auch noch kein pst_064.024 Subjekt. Und jetzt erkennen wir den Fehler, der die Begriffsverwirrung pst_064.025 verschuldet. Wenn lyrische Dichtung pst_064.026 nicht objektiv ist, so darf sie darum doch nicht subjektiv pst_064.027 heißen. Und wenn sie nicht Außenwelt darstellt, stellt pst_064.028 sie dennoch auch keine Innenwelt dar. Sondern «innen» pst_064.029 und «außen», «subjektiv» und «objektiv» sind in lyrischer pst_064.030 Poesie überhaupt nicht geschieden. pst_064.031   Es ist bemerkenswert, wie in Vischers Ästhetik diese

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Technische Universität Darmstadt, Universität Stuttgart: Bereitstellung der Scan-Digitalisate und der Texttranskription. (2015-09-30T09:54:39Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
TextGrid/DARIAH-DE: Langfristige Bereitstellung der TextGrid/DARIAH-DE-Repository-Ausgabe
Stefan Alscher: Bearbeitung der digitalen Edition - Annotation des Metaphernbegriffs
Hans-Werner Bartz: Bearbeitung der digitalen Edition - Tustep-Unterstützung
Michael Bender: Bearbeitung der digitalen Edition - Koordination, Konzeption (Korpusaufbau, Annotationsschema, Workflow, Publikationsformen), Annotation des Metaphernbegriffs, XML-Auszeichnung)
Leonie Blumenschein: Bearbeitung der digitalen Edition - XML-Auszeichnung
David Glück: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung, Annotation des Metaphernbegriffs, XSL+JavaScript
Constanze Hahn: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung
Philipp Hegel: Bearbeitung der digitalen Edition - XML/XSL/CSS-Unterstützung
Andrea Rapp: ePoetics-Projekt-Koordination

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: keine Angabe; Druckfehler: keine Angabe; fremdsprachliches Material: gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage; i/j in Fraktur: wie Vorlage; I/J in Fraktur: wie Vorlage; Kolumnentitel: nicht übernommen; Kustoden: nicht übernommen; langes s (ſ): wie Vorlage; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): wie Vorlage; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: nicht übernommen; u/v bzw. U/V: wie Vorlage; Vokale mit übergest. e: wie Vorlage; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: ja;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/staiger_poetik_1946
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/staiger_poetik_1946/68
Zitationshilfe: Staiger, Emil: Grundbegriffe der Poetik. Zürich, 1946, S. 64. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/staiger_poetik_1946/68>, abgerufen am 23.11.2024.