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Staiger, Emil: Grundbegriffe der Poetik. Zürich, 1946.

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Aber uns ist wonnereich, pst_062.002
In den Euphrat greifen pst_062.003
Und im flüßgen Element pst_062.004
Hin und wider schweifen ..."
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So hat Goethe "Lied und Gebilde" einander gegenübergestellt. pst_062.006
Wenn die dritte Strophe dann freilich vom pst_062.007
geballten Wasser in der reinen Hand des Künstlers pst_062.008
spricht, so scheint sich klassische Ästhetik doch wieder pst_062.009
gegen die Lyrik behaupten zu wollen, es sei denn, der pst_062.010
Vers bedeute nur das Wunder, daß dies Flüssige in der pst_062.011
Lyrik dennoch Sprache werden kann, ein Rätsel, an pst_062.012
dessen Lösung sich erst ein späterer Abschnitt versuchen pst_062.013
wird. Hier genügt uns, einzusehen, daß die Ungehörigkeit pst_062.014
des Begriffs der Form, die parataktische Folge ohne pst_062.015
scharfe Begrenzung der Teile, die Nötigung, durch den pst_062.016
Kehrreim und Wiederholungen anderer Art die sonst pst_062.017
unerreichbare Einheit zu gewinnen, sich wieder aus dem pst_062.018
Fehlen des Abstands begreift, das alle lyrischen Phänomene pst_062.019
charakterisiert.

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Immer ist es derselbe Abstand, der in der lyrischen pst_062.021
Dichtung fehlt. Wir hätten ihn schon längst als Subjekt-Objekt-Abstand pst_062.022
bezeichnen können, wenn die Begriffe pst_062.023
Subjekt und Objekt nicht ebenso mißverständlich pst_062.024
und mehrdeutig wären wie der Begriff der Form. "Das pst_062.025
Lyrische ist nicht objektiv": so lautet die Formel, die pst_062.026
seit der idealistischen Ästhetik gang und gebe ist. Dieselbe pst_062.027
Formel, positiv gewendet, scheint lauten zu müssen: pst_062.028
"Das Lyrische ist subjektiv". Daraus ergibt sich pst_062.029
dann leicht eine Dreiteilung der Poesie nach folgendem pst_062.030
Schema: Lyrik - subjektive, Epos - objektive Poesie;

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Aber uns ist wonnereich, pst_062.002
In den Euphrat greifen pst_062.003
Und im flüßgen Element pst_062.004
Hin und wider schweifen ...»
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  So hat Goethe «Lied und Gebilde» einander gegenübergestellt. pst_062.006
Wenn die dritte Strophe dann freilich vom pst_062.007
geballten Wasser in der reinen Hand des Künstlers pst_062.008
spricht, so scheint sich klassische Ästhetik doch wieder pst_062.009
gegen die Lyrik behaupten zu wollen, es sei denn, der pst_062.010
Vers bedeute nur das Wunder, daß dies Flüssige in der pst_062.011
Lyrik dennoch Sprache werden kann, ein Rätsel, an pst_062.012
dessen Lösung sich erst ein späterer Abschnitt versuchen pst_062.013
wird. Hier genügt uns, einzusehen, daß die Ungehörigkeit pst_062.014
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Kehrreim und Wiederholungen anderer Art die sonst pst_062.017
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Fehlen des Abstands begreift, das alle lyrischen Phänomene pst_062.019
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  Immer ist es derselbe Abstand, der in der lyrischen pst_062.021
Dichtung fehlt. Wir hätten ihn schon längst als Subjekt-Objekt-Abstand pst_062.022
bezeichnen können, wenn die Begriffe pst_062.023
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Lyrische ist nicht objektiv»: so lautet die Formel, die pst_062.026
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«Das Lyrische ist subjektiv». Daraus ergibt sich pst_062.029
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Zitationshilfe: Staiger, Emil: Grundbegriffe der Poetik. Zürich, 1946, S. 62. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/staiger_poetik_1946/66>, abgerufen am 27.04.2024.