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Staiger, Emil: Grundbegriffe der Poetik. Zürich, 1946.

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Ereignis fühlbar; das Herz klopft, und schließlich pst_061.002
zieht die Erinnerung das Gedächtnis nach; wir können pst_061.003
sagen, wo dieser Duft uns früher einmal die Sinne pst_061.004
betäubte. Daß Düfte so sehr der Erinnerung und so pst_061.005
wenig dem Gedächtnis gehören, hängt zweifellos damit pst_061.006
zusammen, daß wir sie nicht gestalten, ja oft genug pst_061.007
sogar kaum benennen können. Ungestaltet, unbenannt, pst_061.008
werden sie nicht zu Gegenständen. Und nur von dem, pst_061.009
was Anschauung oder Begriff zum Gegenstand macht, pst_061.010
sind wir frei. Nur dazu haben wir "Stellung bezogen"1.

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Der lyrisch Gestimmte bezieht nicht Stellung. Er pst_061.013
gleitet mit im Strom des Daseins. Das Momentane gewinnt pst_061.014
für ihn eine ausschließliche Mächtigkeit - jetzt pst_061.015
dieser Ton, jetzt wieder ein andrer. Jeder Vers erfüllt pst_061.016
ihn so, daß er nicht angeben kann, wie das Spätere sich pst_061.017
zum Früheren verhält. Wo deshalb ein Zusammenhang pst_061.018
ausdrücklich hergestellt, Konturen ausgezogen oder gar pst_061.019
Teile durch logische Konjunktionen wie "weil", "demnach" pst_061.020
aufeinander bezogen werden, da ist das Gleiten pst_061.021
unterbrochen. Wir fühlen uns ernüchtert oder, was pst_061.022
dasselbe heißt, unbewegt, ans feste Ufer abgesetzt, da pst_061.023
wir uns doch lieber vom Flüssigen hätten weitertragen pst_061.024
lassen und dazu eingeladen waren.

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"Mag der Grieche seinen Ton pst_061.026
Zu Gestalten drücken, pst_061.027
An der eignen Hände Sohn pst_061.028
Steigern sein Entzücken;
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Vgl. dazu Schiller a. a. O. Bd. XVIII, S. 51.

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Ereignis fühlbar; das Herz klopft, und schließlich pst_061.002
zieht die Erinnerung das Gedächtnis nach; wir können pst_061.003
sagen, wo dieser Duft uns früher einmal die Sinne pst_061.004
betäubte. Daß Düfte so sehr der Erinnerung und so pst_061.005
wenig dem Gedächtnis gehören, hängt zweifellos damit pst_061.006
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was Anschauung oder Begriff zum Gegenstand macht, pst_061.010
sind wir frei. Nur dazu haben wir «Stellung bezogen»1.

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  Der lyrisch Gestimmte bezieht nicht Stellung. Er pst_061.013
gleitet mit im Strom des Daseins. Das Momentane gewinnt pst_061.014
für ihn eine ausschließliche Mächtigkeit – jetzt pst_061.015
dieser Ton, jetzt wieder ein andrer. Jeder Vers erfüllt pst_061.016
ihn so, daß er nicht angeben kann, wie das Spätere sich pst_061.017
zum Früheren verhält. Wo deshalb ein Zusammenhang pst_061.018
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unterbrochen. Wir fühlen uns ernüchtert oder, was pst_061.022
dasselbe heißt, unbewegt, ans feste Ufer abgesetzt, da pst_061.023
wir uns doch lieber vom Flüssigen hätten weitertragen pst_061.024
lassen und dazu eingeladen waren.

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«Mag der Grieche seinen Ton pst_061.026
Zu Gestalten drücken, pst_061.027
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Zitationshilfe: Staiger, Emil: Grundbegriffe der Poetik. Zürich, 1946, S. 61. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/staiger_poetik_1946/65>, abgerufen am 27.04.2024.