Staiger, Emil: Grundbegriffe der Poetik. Zürich, 1946.pst_051.001 Das Liebeslied, in dem ein Dichter die Geliebte mit pst_051.023 Der Hörer kann nun freilich für die Stimmung vorbereitet pst_051.029 pst_051.001 Das Liebeslied, in dem ein Dichter die Geliebte mit pst_051.023 Der Hörer kann nun freilich für die Stimmung vorbereitet pst_051.029 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0055" n="51"/><lb n="pst_051.001"/> Kreis, vor Menschen, auf deren Herz wir uns verlassen <lb n="pst_051.002"/> dürfen. Ganz aber blüht ein lyrisches Stück nur in der <lb n="pst_051.003"/> Stille einsamen Lesens auf. Und auch dieses Aufblühen <lb n="pst_051.004"/> ist ein Glück, das dem Leser nicht alle Tage beschert <lb n="pst_051.005"/> wird. Wir blättern in einer Liedersammlung. Nichts <lb n="pst_051.006"/> spricht uns an. Die Verse klingen leer, und wir wundern <lb n="pst_051.007"/> uns über den eitlen Dichter, der sich die Mühe <lb n="pst_051.008"/> nahm, dergleichen aufzuschreiben, zusammenzustellen <lb n="pst_051.009"/> und seinen Zeitgenossen oder der Nachwelt zuzumuten. <lb n="pst_051.010"/> Auf einmal aber, in einer besonderen Stunde, <lb n="pst_051.011"/> ergreift uns eine Strophe, ein ganzes Gedicht. Später <lb n="pst_051.012"/> schließen sich weitere an; und wir erkennen fast bestürzt, <lb n="pst_051.013"/> daß ein großer Dichter spricht. Das ist die Wirkung <lb n="pst_051.014"/> einer Kunst, die weder, wie die epische, fesselt, <lb n="pst_051.015"/> noch, wie die dramatische, aufregt und spannt. Das <lb n="pst_051.016"/> Lyrische wird eingeflößt. Wenn das Einflößen gelingen <lb n="pst_051.017"/> soll, muß der Leser offen sein. Er ist offen, wenn seine <lb n="pst_051.018"/> Seele gestimmt ist wie die Seele des Dichters. Und also <lb n="pst_051.019"/> erweist sich lyrische Poesie als Kunst der Einsamkeit, <lb n="pst_051.020"/> die rein nur von Gleichgestimmten in der Einsamkeit <lb n="pst_051.021"/> erhört wird.</p> <lb n="pst_051.022"/> <p> Das Liebeslied, in dem ein Dichter die Geliebte mit <lb n="pst_051.023"/> Du anredet, muß hier einbezogen werden. Ein lyrisches <lb n="pst_051.024"/> Du-sagen ist nur möglich, wenn die Geliebte und der <lb n="pst_051.025"/> Dichter «ein Herz und eine Seele» sind. Klage um unerwiderte <lb n="pst_051.026"/> Liebe aber spricht ein Du, von dem das Ich <lb n="pst_051.027"/> weiß, daß es nicht eingeht.</p> <lb n="pst_051.028"/> <p> Der Hörer kann nun freilich für die Stimmung vorbereitet <lb n="pst_051.029"/> werden. Das ist, vom Dichter aus betrachtet, <lb n="pst_051.030"/> der Sinn der Komposition eines Lieds. Schubert, Schumann, <lb n="pst_051.031"/> Brahms, Hugo Wolf und Schoeck sind Meister </p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [51/0055]
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Kreis, vor Menschen, auf deren Herz wir uns verlassen pst_051.002
dürfen. Ganz aber blüht ein lyrisches Stück nur in der pst_051.003
Stille einsamen Lesens auf. Und auch dieses Aufblühen pst_051.004
ist ein Glück, das dem Leser nicht alle Tage beschert pst_051.005
wird. Wir blättern in einer Liedersammlung. Nichts pst_051.006
spricht uns an. Die Verse klingen leer, und wir wundern pst_051.007
uns über den eitlen Dichter, der sich die Mühe pst_051.008
nahm, dergleichen aufzuschreiben, zusammenzustellen pst_051.009
und seinen Zeitgenossen oder der Nachwelt zuzumuten. pst_051.010
Auf einmal aber, in einer besonderen Stunde, pst_051.011
ergreift uns eine Strophe, ein ganzes Gedicht. Später pst_051.012
schließen sich weitere an; und wir erkennen fast bestürzt, pst_051.013
daß ein großer Dichter spricht. Das ist die Wirkung pst_051.014
einer Kunst, die weder, wie die epische, fesselt, pst_051.015
noch, wie die dramatische, aufregt und spannt. Das pst_051.016
Lyrische wird eingeflößt. Wenn das Einflößen gelingen pst_051.017
soll, muß der Leser offen sein. Er ist offen, wenn seine pst_051.018
Seele gestimmt ist wie die Seele des Dichters. Und also pst_051.019
erweist sich lyrische Poesie als Kunst der Einsamkeit, pst_051.020
die rein nur von Gleichgestimmten in der Einsamkeit pst_051.021
erhört wird.
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Das Liebeslied, in dem ein Dichter die Geliebte mit pst_051.023
Du anredet, muß hier einbezogen werden. Ein lyrisches pst_051.024
Du-sagen ist nur möglich, wenn die Geliebte und der pst_051.025
Dichter «ein Herz und eine Seele» sind. Klage um unerwiderte pst_051.026
Liebe aber spricht ein Du, von dem das Ich pst_051.027
weiß, daß es nicht eingeht.
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Der Hörer kann nun freilich für die Stimmung vorbereitet pst_051.029
werden. Das ist, vom Dichter aus betrachtet, pst_051.030
der Sinn der Komposition eines Lieds. Schubert, Schumann, pst_051.031
Brahms, Hugo Wolf und Schoeck sind Meister
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(2015-09-30T09:54:39Z)
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