Staiger, Emil: Grundbegriffe der Poetik. Zürich, 1946.pst_050.001 pst_050.014 Ob aber ein Leser mitschwingt, ob er die Wahrheit pst_050.015 pst_050.001 pst_050.014 Ob aber ein Leser mitschwingt, ob er die Wahrheit pst_050.015 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0054" n="50"/><lb n="pst_050.001"/> seines eigenen Lebens bezieht. Wo dies geschieht, <lb n="pst_050.002"/> findet gerade keine reine Aufnahme statt. Was <lb n="pst_050.003"/> eine Beziehung erlaubt, wird überschätzt, anderes mißachtet. <lb n="pst_050.004"/> Oft ist keine Beziehung möglich, und wenn sie <lb n="pst_050.005"/> besteht, kann auch der Leser sich erst nachträglich <lb n="pst_050.006"/> Rechenschaft geben, daß ihm Verse Freude oder Trost <lb n="pst_050.007"/> gespendet haben, weil er in ähnlichen Voraussetzungen <lb n="pst_050.008"/> lebt. Bei wahrem Lesen schwingt er mit, ohne zu begreifen <lb n="pst_050.009"/> – im weitesten Sinne des Wortes ohne Grund. <lb n="pst_050.010"/> Nur wer nicht mitschwingt, fordert Gründe. Nur wer <lb n="pst_050.011"/> die Stimmung nicht unmittelbar zu teilen vermag, muß <lb n="pst_050.012"/> sie möglich finden und ist auf Begreiflichkeit angewiesen.</p> <lb n="pst_050.013"/> <lb n="pst_050.014"/> <p> Ob aber ein Leser mitschwingt, ob er die Wahrheit <lb n="pst_050.015"/> einer Stimmung bestreitet, das kümmert den Lyriker <lb n="pst_050.016"/> selber nicht. Denn er ist einsam, weiß von keinem Publikum <lb n="pst_050.017"/> und dichtet für sich. Doch eine solche Behauptung <lb n="pst_050.018"/> will erläutert sein. Auch Lyrisches wird ja veröffentlicht. <lb n="pst_050.019"/> Die Ernte von Jahren wird gesammelt und <lb n="pst_050.020"/> einem Publikum vorgelegt. Gewiß! Doch hier schon, <lb n="pst_050.021"/> in einem Gedichtband, nimmt sich, mit Goethe zu reden, <lb n="pst_050.022"/> das «leidenschaftliche Gestammel geschrieben gar <lb n="pst_050.023"/> so seltsam aus». Und das Sammeln der losen Blätter hat <lb n="pst_050.024"/> nicht nur Goethe als widersinnig empfunden. Wenn <lb n="pst_050.025"/> der Gedichtband vorliegt, was fängt das Publikum damit <lb n="pst_050.026"/> an? Man kann lyrische Gedichte vortragen, aber nur <lb n="pst_050.027"/> so, wie man ein theatersicheres Drama auch lesen kann. <lb n="pst_050.028"/> Sie kommen im Vortrag nicht zu ihrem Recht. Ein Rezitator, <lb n="pst_050.029"/> der vor vollem Saal ausgesprochen lyrische Dichtung <lb n="pst_050.030"/> vorträgt, macht fast immer einen peinlichen Eindruck. <lb n="pst_050.031"/> Schon eher möglich ist der Vortrag im kleinen </p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [50/0054]
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seines eigenen Lebens bezieht. Wo dies geschieht, pst_050.002
findet gerade keine reine Aufnahme statt. Was pst_050.003
eine Beziehung erlaubt, wird überschätzt, anderes mißachtet. pst_050.004
Oft ist keine Beziehung möglich, und wenn sie pst_050.005
besteht, kann auch der Leser sich erst nachträglich pst_050.006
Rechenschaft geben, daß ihm Verse Freude oder Trost pst_050.007
gespendet haben, weil er in ähnlichen Voraussetzungen pst_050.008
lebt. Bei wahrem Lesen schwingt er mit, ohne zu begreifen pst_050.009
– im weitesten Sinne des Wortes ohne Grund. pst_050.010
Nur wer nicht mitschwingt, fordert Gründe. Nur wer pst_050.011
die Stimmung nicht unmittelbar zu teilen vermag, muß pst_050.012
sie möglich finden und ist auf Begreiflichkeit angewiesen.
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einer Stimmung bestreitet, das kümmert den Lyriker pst_050.016
selber nicht. Denn er ist einsam, weiß von keinem Publikum pst_050.017
und dichtet für sich. Doch eine solche Behauptung pst_050.018
will erläutert sein. Auch Lyrisches wird ja veröffentlicht. pst_050.019
Die Ernte von Jahren wird gesammelt und pst_050.020
einem Publikum vorgelegt. Gewiß! Doch hier schon, pst_050.021
in einem Gedichtband, nimmt sich, mit Goethe zu reden, pst_050.022
das «leidenschaftliche Gestammel geschrieben gar pst_050.023
so seltsam aus». Und das Sammeln der losen Blätter hat pst_050.024
nicht nur Goethe als widersinnig empfunden. Wenn pst_050.025
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an? Man kann lyrische Gedichte vortragen, aber nur pst_050.027
so, wie man ein theatersicheres Drama auch lesen kann. pst_050.028
Sie kommen im Vortrag nicht zu ihrem Recht. Ein Rezitator, pst_050.029
der vor vollem Saal ausgesprochen lyrische Dichtung pst_050.030
vorträgt, macht fast immer einen peinlichen Eindruck. pst_050.031
Schon eher möglich ist der Vortrag im kleinen
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(2015-09-30T09:54:39Z)
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