Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Staiger, Emil: Grundbegriffe der Poetik. Zürich, 1946.

Bild:
<< vorherige Seite

pst_021.001
eine Übertragung in Prosa zeige, was in einem Gedicht pst_021.002
an echtem Leben enthalten sei. Das könnte man bei pst_021.003
Dramen oder epischen Werken zur Not verstehen. Die pst_021.004
Fahrten des Odysseus vermögen auch in den "Sagen des pst_021.005
klassischen Altertums" von Schwab den Leser zu fesseln. pst_021.006
Eine kräftige Nacherzählung von Schillers "Wallenstein" pst_021.007
wäre denkbar. Lieder aber büßen mit den pst_021.008
Versen das Wesentlichste ein, und umgekehrt kann ein pst_021.009
Nichts von Motiv in lyrischer Sprache den Wert eines pst_021.010
Kunstwerks ersten Ranges gewinnen. Bei vielen Gedichten pst_021.011
Eichendorffs hielte es schwer, ein Motiv herauszuschälen. pst_021.012
Und widerlegt nicht eines der berühmtesten pst_021.013
Gedichte Goethes, das Lied "An den Mond", sein pst_021.014
schroffes Urteil? Seit über hundert Jahren wissen sich pst_021.015
die Kenner nicht zu einigen über die Situation, die dem pst_021.016
Gedicht zugrundeliegen soll. Ist es an eine Frau gerichtet, pst_021.017
an einen Mann? Und wenn ein Mann gemeint ist, pst_021.018
ist es ein Rollengedicht? Oder soll es vielmehr ein pst_021.019
Zwiegesang sein? Und wenn es ein Zwiegesang ist, wie pst_021.020
verteilen die Strophen sich auf die beiden Partner? Alles pst_021.021
wurde erwogen und alles verworfen, nur das eine pst_021.022
nicht, daß dieses unverständliche Lied zum Schönsten pst_021.023
der Weltliteratur gehöre.

pst_021.024

Goethes Forderung an ein gutes Gedicht stammt aus pst_021.025
der späteren Zeit, da seine Ästhetik auf Begriffen ruhte, pst_021.026
die er sich an der Natur und der bildenden Kunst erarbeitet pst_021.027
hatte. Dieselben Begriffe wurden zur Basis der pst_021.028
deutschen Literaturgeschichte, zumal der heikle Begriff pst_021.029
der Form, der, wie man ihn auch wenden mag, pst_021.030
doch immer ein zu Formendes und eine formende pst_021.031
Kraft oder eine Art Hohlform, mit der geformt wird,

pst_021.001
eine Übertragung in Prosa zeige, was in einem Gedicht pst_021.002
an echtem Leben enthalten sei. Das könnte man bei pst_021.003
Dramen oder epischen Werken zur Not verstehen. Die pst_021.004
Fahrten des Odysseus vermögen auch in den «Sagen des pst_021.005
klassischen Altertums» von Schwab den Leser zu fesseln. pst_021.006
Eine kräftige Nacherzählung von Schillers «Wallenstein» pst_021.007
wäre denkbar. Lieder aber büßen mit den pst_021.008
Versen das Wesentlichste ein, und umgekehrt kann ein pst_021.009
Nichts von Motiv in lyrischer Sprache den Wert eines pst_021.010
Kunstwerks ersten Ranges gewinnen. Bei vielen Gedichten pst_021.011
Eichendorffs hielte es schwer, ein Motiv herauszuschälen. pst_021.012
Und widerlegt nicht eines der berühmtesten pst_021.013
Gedichte Goethes, das Lied «An den Mond», sein pst_021.014
schroffes Urteil? Seit über hundert Jahren wissen sich pst_021.015
die Kenner nicht zu einigen über die Situation, die dem pst_021.016
Gedicht zugrundeliegen soll. Ist es an eine Frau gerichtet, pst_021.017
an einen Mann? Und wenn ein Mann gemeint ist, pst_021.018
ist es ein Rollengedicht? Oder soll es vielmehr ein pst_021.019
Zwiegesang sein? Und wenn es ein Zwiegesang ist, wie pst_021.020
verteilen die Strophen sich auf die beiden Partner? Alles pst_021.021
wurde erwogen und alles verworfen, nur das eine pst_021.022
nicht, daß dieses unverständliche Lied zum Schönsten pst_021.023
der Weltliteratur gehöre.

pst_021.024

  Goethes Forderung an ein gutes Gedicht stammt aus pst_021.025
der späteren Zeit, da seine Ästhetik auf Begriffen ruhte, pst_021.026
die er sich an der Natur und der bildenden Kunst erarbeitet pst_021.027
hatte. Dieselben Begriffe wurden zur Basis der pst_021.028
deutschen Literaturgeschichte, zumal der heikle Begriff pst_021.029
der Form, der, wie man ihn auch wenden mag, pst_021.030
doch immer ein zu Formendes und eine formende pst_021.031
Kraft oder eine Art Hohlform, mit der geformt wird,

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0025" n="21"/><lb n="pst_021.001"/>
eine Übertragung in Prosa zeige, was in einem Gedicht <lb n="pst_021.002"/>
an echtem Leben enthalten sei. Das könnte man bei <lb n="pst_021.003"/>
Dramen oder epischen Werken zur Not verstehen. Die <lb n="pst_021.004"/>
Fahrten des Odysseus vermögen auch in den «Sagen des <lb n="pst_021.005"/>
klassischen Altertums» von Schwab den Leser zu fesseln. <lb n="pst_021.006"/>
Eine kräftige Nacherzählung von Schillers «Wallenstein» <lb n="pst_021.007"/>
wäre denkbar. Lieder aber büßen mit den <lb n="pst_021.008"/>
Versen das Wesentlichste ein, und umgekehrt kann ein <lb n="pst_021.009"/>
Nichts von Motiv in lyrischer Sprache den Wert eines <lb n="pst_021.010"/>
Kunstwerks ersten Ranges gewinnen. Bei vielen Gedichten <lb n="pst_021.011"/>
Eichendorffs hielte es schwer, ein Motiv herauszuschälen. <lb n="pst_021.012"/>
Und widerlegt nicht eines der berühmtesten <lb n="pst_021.013"/>
Gedichte Goethes, das Lied «An den Mond», sein <lb n="pst_021.014"/>
schroffes Urteil? Seit über hundert Jahren wissen sich <lb n="pst_021.015"/>
die Kenner nicht zu einigen über die Situation, die dem <lb n="pst_021.016"/>
Gedicht zugrundeliegen soll. Ist es an eine Frau gerichtet, <lb n="pst_021.017"/>
an einen Mann? Und wenn ein Mann gemeint ist, <lb n="pst_021.018"/>
ist es ein Rollengedicht? Oder soll es vielmehr ein <lb n="pst_021.019"/>
Zwiegesang sein? Und wenn es ein Zwiegesang ist, wie <lb n="pst_021.020"/>
verteilen die Strophen sich auf die beiden Partner? Alles <lb n="pst_021.021"/>
wurde erwogen und alles verworfen, nur das eine <lb n="pst_021.022"/>
nicht, daß dieses unverständliche Lied zum Schönsten <lb n="pst_021.023"/>
der Weltliteratur gehöre.</p>
          <lb n="pst_021.024"/>
          <p>  Goethes Forderung an ein gutes Gedicht stammt aus <lb n="pst_021.025"/>
der späteren Zeit, da seine Ästhetik auf Begriffen ruhte, <lb n="pst_021.026"/>
die er sich an der Natur und der bildenden Kunst erarbeitet <lb n="pst_021.027"/>
hatte. Dieselben Begriffe wurden zur Basis der <lb n="pst_021.028"/>
deutschen Literaturgeschichte, zumal der heikle Begriff <lb n="pst_021.029"/>
der Form, der, wie man ihn auch wenden mag, <lb n="pst_021.030"/>
doch immer ein zu Formendes und eine formende <lb n="pst_021.031"/>
Kraft oder eine Art Hohlform, mit der geformt wird,
</p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[21/0025] pst_021.001 eine Übertragung in Prosa zeige, was in einem Gedicht pst_021.002 an echtem Leben enthalten sei. Das könnte man bei pst_021.003 Dramen oder epischen Werken zur Not verstehen. Die pst_021.004 Fahrten des Odysseus vermögen auch in den «Sagen des pst_021.005 klassischen Altertums» von Schwab den Leser zu fesseln. pst_021.006 Eine kräftige Nacherzählung von Schillers «Wallenstein» pst_021.007 wäre denkbar. Lieder aber büßen mit den pst_021.008 Versen das Wesentlichste ein, und umgekehrt kann ein pst_021.009 Nichts von Motiv in lyrischer Sprache den Wert eines pst_021.010 Kunstwerks ersten Ranges gewinnen. Bei vielen Gedichten pst_021.011 Eichendorffs hielte es schwer, ein Motiv herauszuschälen. pst_021.012 Und widerlegt nicht eines der berühmtesten pst_021.013 Gedichte Goethes, das Lied «An den Mond», sein pst_021.014 schroffes Urteil? Seit über hundert Jahren wissen sich pst_021.015 die Kenner nicht zu einigen über die Situation, die dem pst_021.016 Gedicht zugrundeliegen soll. Ist es an eine Frau gerichtet, pst_021.017 an einen Mann? Und wenn ein Mann gemeint ist, pst_021.018 ist es ein Rollengedicht? Oder soll es vielmehr ein pst_021.019 Zwiegesang sein? Und wenn es ein Zwiegesang ist, wie pst_021.020 verteilen die Strophen sich auf die beiden Partner? Alles pst_021.021 wurde erwogen und alles verworfen, nur das eine pst_021.022 nicht, daß dieses unverständliche Lied zum Schönsten pst_021.023 der Weltliteratur gehöre. pst_021.024   Goethes Forderung an ein gutes Gedicht stammt aus pst_021.025 der späteren Zeit, da seine Ästhetik auf Begriffen ruhte, pst_021.026 die er sich an der Natur und der bildenden Kunst erarbeitet pst_021.027 hatte. Dieselben Begriffe wurden zur Basis der pst_021.028 deutschen Literaturgeschichte, zumal der heikle Begriff pst_021.029 der Form, der, wie man ihn auch wenden mag, pst_021.030 doch immer ein zu Formendes und eine formende pst_021.031 Kraft oder eine Art Hohlform, mit der geformt wird,

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Technische Universität Darmstadt, Universität Stuttgart: Bereitstellung der Scan-Digitalisate und der Texttranskription. (2015-09-30T09:54:39Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
TextGrid/DARIAH-DE: Langfristige Bereitstellung der TextGrid/DARIAH-DE-Repository-Ausgabe
Stefan Alscher: Bearbeitung der digitalen Edition - Annotation des Metaphernbegriffs
Hans-Werner Bartz: Bearbeitung der digitalen Edition - Tustep-Unterstützung
Michael Bender: Bearbeitung der digitalen Edition - Koordination, Konzeption (Korpusaufbau, Annotationsschema, Workflow, Publikationsformen), Annotation des Metaphernbegriffs, XML-Auszeichnung)
Leonie Blumenschein: Bearbeitung der digitalen Edition - XML-Auszeichnung
David Glück: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung, Annotation des Metaphernbegriffs, XSL+JavaScript
Constanze Hahn: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung
Philipp Hegel: Bearbeitung der digitalen Edition - XML/XSL/CSS-Unterstützung
Andrea Rapp: ePoetics-Projekt-Koordination

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: keine Angabe; Druckfehler: keine Angabe; fremdsprachliches Material: gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage; i/j in Fraktur: wie Vorlage; I/J in Fraktur: wie Vorlage; Kolumnentitel: nicht übernommen; Kustoden: nicht übernommen; langes s (ſ): wie Vorlage; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): wie Vorlage; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: nicht übernommen; u/v bzw. U/V: wie Vorlage; Vokale mit übergest. e: wie Vorlage; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: ja;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/staiger_poetik_1946
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/staiger_poetik_1946/25
Zitationshilfe: Staiger, Emil: Grundbegriffe der Poetik. Zürich, 1946, S. 21. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/staiger_poetik_1946/25>, abgerufen am 25.11.2024.