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Staiger, Emil: Grundbegriffe der Poetik. Zürich, 1946.

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voraussetzt. Eben dieses Gegenüber einer Form und pst_022.002
eines zu Formenden öffnet in lyrischer Dichtung sich pst_022.003
nicht. Im Epischen mag man den Ausdruck verwenden, pst_022.004
wo das Verschiedenste, Schmerz und Lust, Waffengetöse pst_022.005
und Heimkehr des Helden, in die eine "Form", pst_022.006
den Hexameter, der unverrückbar in allem Wechsel besteht, pst_022.007
hineingegossen wird. In lyrischer Dichtung dagegen pst_022.008
entstehen die Metren, Reime und Rhythmen in pst_022.009
eins mit den Sätzen. Keins ist vom andern zu lösen, und pst_022.010
also sind diese nicht Inhalt und jene nicht Form.

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Daraus scheint nun aber zu folgen, daß in lyrischer pst_022.012
Dichtung so viele metrische Gebilde vorliegen müssen, pst_022.013
als Stimmungen ausgesprochen werden. Eine Spur davon pst_022.014
ist allerdings in der historischen Lyrik sichtbar. Der pst_022.015
alten Poetik, welche die Gattung nach metrischen Kennzeichen pst_022.016
zu bestimmen versucht, bereitet die Lyrik pst_022.017
nämlich gerade durch die Verschiedenheit der Maße, pst_022.018
"varietate carminum", Schwierigkeiten. Es bleibt ihr pst_022.019
am Ende nichts anderes übrig, als eben diese "varietas" pst_022.020
kennzeichnend für die Gattung zu finden. Die Namen pst_022.021
"Asclepiadeus", "alkäische", "sapphische" Strophe pst_022.022
zeigen zudem, daß ursprünglich wenigstens jeder Meister pst_022.023
des Melos seinen eigenen Ton singt, ein Ideal, das pst_022.024
im Mittelalter wieder zu neuer Geltung gelangt. Das pst_022.025
Höchste jedoch scheint erst erreicht, wenn nicht nur jeder pst_022.026
Dichter, sondern jedes Lied seinen eigenen Ton, pst_022.027
seine eigene Strophe, sein eigenes Maß hat. So ist es pst_022.028
denn auch in den kurzen Liedern aus Goethes ersten pst_022.029
Weimarer Jahren, in "Rastlose Liebe", "Herbstgefühl", pst_022.030
vollkommener noch in "Wanderers Nachtlied", in pst_022.031
"Über allen Gipfeln ist Ruh'", weil dieses wunderbare

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nicht. Im Epischen mag man den Ausdruck verwenden, pst_022.004
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als Stimmungen ausgesprochen werden. Eine Spur davon pst_022.014
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zu bestimmen versucht, bereitet die Lyrik pst_022.017
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«varietate carminum», Schwierigkeiten. Es bleibt ihr pst_022.019
am Ende nichts anderes übrig, als eben diese «varietas» pst_022.020
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Höchste jedoch scheint erst erreicht, wenn nicht nur jeder pst_022.026
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seine eigene Strophe, sein eigenes Maß hat. So ist es pst_022.028
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Weimarer Jahren, in «Rastlose Liebe», «Herbstgefühl», pst_022.030
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Zitationshilfe: Staiger, Emil: Grundbegriffe der Poetik. Zürich, 1946, S. 22. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/staiger_poetik_1946/26>, abgerufen am 28.11.2024.