Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Staiger, Emil: Grundbegriffe der Poetik. Zürich, 1946.

Bild:
<< vorherige Seite
pst_238.001

Die Befindlichkeit oder die Stimmung prägt sich pst_238.002
dichterisch aus im lyrischen Stil.

pst_238.003

"Wie die Zukunft primär das Verstehen, die Gewesenheit pst_238.004
die Stimmung ermöglicht, so hat das dritte konstitutive pst_238.005
Strukturmoment der Sorge, das Verfallen, seinen pst_238.006
existentialen Sinn in der Gegenwart1." "Vergessen", pst_238.007
"Neugier", beide in ganz bestimmter Bedeutung, pst_238.008
gehören hierher.

pst_238.009

Das Verfallen entspricht dem epischen Stil.

pst_238.010

Entwerfen, Befindlichkeit und Verfallen konstituieren pst_238.011
zusammen die "Sorge", womit in "Sein und pst_238.012
Zeit" noch das Sein des Menschen als Zeit bezeichnet pst_238.013
wird.

pst_238.014

Dies Wenige muß als Hinweis genügen. Es wäre pst_238.015
sinnlos, Heideggers Ontologie rekapitulieren zu wollen. pst_238.016
Es wäre vielleicht gar irreführend, da "Sein und Zeit", pst_238.017
zum mindesten in der Ausdrucksweise, noch belastet ist pst_238.018
mit einer düsteren Strenge (fühlbar bereits im Begriff pst_238.019
des "Verfallens"), die kaum geeignet scheint, unser pst_238.020
Bemühen um das Wesen der Dichtung vorzubereiten. pst_238.021
Die späteren Schriften aber, weiter, heller und offener, pst_238.022
halten bewußt mit Analysen der Zeit zurück, obwohl pst_238.023
der Hauptgedanke Sein = Zeit noch immer vorausgesetzt pst_238.024
ist. So würde die Aufgabe darin bestehen, die Errungenschaften pst_238.025
von "Sein und Zeit" sich zunächst im pst_238.026
Geiste der Hölderlin-Studien, des "Wesens der Wahrheit" pst_238.027
anzueignen und dann die Brücke von ontologischer pst_238.028
zu ästhetischer Forschung zu schlagen. Wer aber pst_238.029
die Dichtung ergründen möchte, wer demnach von der pst_238.030
Erfahrung ihrer verwirrenden Fülle ausgeht und erst

1 pst_238.031
a. a. O. S. 346.
pst_238.001

  Die Befindlichkeit oder die Stimmung prägt sich pst_238.002
dichterisch aus im lyrischen Stil.

pst_238.003

  «Wie die Zukunft primär das Verstehen, die Gewesenheit pst_238.004
die Stimmung ermöglicht, so hat das dritte konstitutive pst_238.005
Strukturmoment der Sorge, das Verfallen, seinen pst_238.006
existentialen Sinn in der Gegenwart1.» «Vergessen», pst_238.007
«Neugier», beide in ganz bestimmter Bedeutung, pst_238.008
gehören hierher.

pst_238.009

  Das Verfallen entspricht dem epischen Stil.

pst_238.010

  Entwerfen, Befindlichkeit und Verfallen konstituieren pst_238.011
zusammen die «Sorge», womit in «Sein und pst_238.012
Zeit» noch das Sein des Menschen als Zeit bezeichnet pst_238.013
wird.

pst_238.014

  Dies Wenige muß als Hinweis genügen. Es wäre pst_238.015
sinnlos, Heideggers Ontologie rekapitulieren zu wollen. pst_238.016
Es wäre vielleicht gar irreführend, da «Sein und Zeit», pst_238.017
zum mindesten in der Ausdrucksweise, noch belastet ist pst_238.018
mit einer düsteren Strenge (fühlbar bereits im Begriff pst_238.019
des «Verfallens»), die kaum geeignet scheint, unser pst_238.020
Bemühen um das Wesen der Dichtung vorzubereiten. pst_238.021
Die späteren Schriften aber, weiter, heller und offener, pst_238.022
halten bewußt mit Analysen der Zeit zurück, obwohl pst_238.023
der Hauptgedanke Sein = Zeit noch immer vorausgesetzt pst_238.024
ist. So würde die Aufgabe darin bestehen, die Errungenschaften pst_238.025
von «Sein und Zeit» sich zunächst im pst_238.026
Geiste der Hölderlin-Studien, des «Wesens der Wahrheit» pst_238.027
anzueignen und dann die Brücke von ontologischer pst_238.028
zu ästhetischer Forschung zu schlagen. Wer aber pst_238.029
die Dichtung ergründen möchte, wer demnach von der pst_238.030
Erfahrung ihrer verwirrenden Fülle ausgeht und erst

1 pst_238.031
a. a. O. S. 346.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <pb facs="#f0242" n="238"/>
        <lb n="pst_238.001"/>
        <p>  Die Befindlichkeit oder die Stimmung prägt sich <lb n="pst_238.002"/>
dichterisch aus im lyrischen Stil.</p>
        <lb n="pst_238.003"/>
        <p>  «Wie die Zukunft primär das Verstehen, die Gewesenheit <lb n="pst_238.004"/>
die Stimmung ermöglicht, so hat das dritte konstitutive <lb n="pst_238.005"/>
Strukturmoment der Sorge, das Verfallen, seinen <lb n="pst_238.006"/>
existentialen Sinn in der Gegenwart<note xml:id="PST_238_1" place="foot" n="1"><lb n="pst_238.031"/>
a. a. O. S. 346.</note>.» «Vergessen», <lb n="pst_238.007"/>
«Neugier», beide in ganz bestimmter Bedeutung, <lb n="pst_238.008"/>
gehören hierher.</p>
        <lb n="pst_238.009"/>
        <p>  Das Verfallen entspricht dem epischen Stil.</p>
        <lb n="pst_238.010"/>
        <p>  Entwerfen, Befindlichkeit und Verfallen konstituieren <lb n="pst_238.011"/>
zusammen die «Sorge», womit in «Sein und <lb n="pst_238.012"/>
Zeit» noch das Sein des Menschen als Zeit bezeichnet <lb n="pst_238.013"/>
wird.</p>
        <lb n="pst_238.014"/>
        <p>  Dies Wenige muß als Hinweis genügen. Es wäre <lb n="pst_238.015"/>
sinnlos, Heideggers Ontologie rekapitulieren zu wollen. <lb n="pst_238.016"/>
Es wäre vielleicht gar irreführend, da «Sein und Zeit», <lb n="pst_238.017"/>
zum mindesten in der Ausdrucksweise, noch belastet ist <lb n="pst_238.018"/>
mit einer düsteren Strenge (fühlbar bereits im Begriff <lb n="pst_238.019"/>
des «Verfallens»), die kaum geeignet scheint, unser <lb n="pst_238.020"/>
Bemühen um das Wesen der Dichtung vorzubereiten. <lb n="pst_238.021"/>
Die späteren Schriften aber, weiter, heller und offener, <lb n="pst_238.022"/>
halten bewußt mit Analysen der Zeit zurück, obwohl <lb n="pst_238.023"/>
der Hauptgedanke Sein = Zeit noch immer vorausgesetzt <lb n="pst_238.024"/>
ist. So würde die Aufgabe darin bestehen, die Errungenschaften <lb n="pst_238.025"/>
von «Sein und Zeit» sich zunächst im <lb n="pst_238.026"/>
Geiste der Hölderlin-Studien, des «Wesens der Wahrheit» <lb n="pst_238.027"/>
anzueignen und dann die Brücke von ontologischer <lb n="pst_238.028"/>
zu ästhetischer Forschung zu schlagen. Wer aber <lb n="pst_238.029"/>
die Dichtung ergründen möchte, wer demnach von der <lb n="pst_238.030"/>
Erfahrung ihrer verwirrenden Fülle ausgeht und erst
</p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[238/0242] pst_238.001   Die Befindlichkeit oder die Stimmung prägt sich pst_238.002 dichterisch aus im lyrischen Stil. pst_238.003   «Wie die Zukunft primär das Verstehen, die Gewesenheit pst_238.004 die Stimmung ermöglicht, so hat das dritte konstitutive pst_238.005 Strukturmoment der Sorge, das Verfallen, seinen pst_238.006 existentialen Sinn in der Gegenwart 1.» «Vergessen», pst_238.007 «Neugier», beide in ganz bestimmter Bedeutung, pst_238.008 gehören hierher. pst_238.009   Das Verfallen entspricht dem epischen Stil. pst_238.010   Entwerfen, Befindlichkeit und Verfallen konstituieren pst_238.011 zusammen die «Sorge», womit in «Sein und pst_238.012 Zeit» noch das Sein des Menschen als Zeit bezeichnet pst_238.013 wird. pst_238.014   Dies Wenige muß als Hinweis genügen. Es wäre pst_238.015 sinnlos, Heideggers Ontologie rekapitulieren zu wollen. pst_238.016 Es wäre vielleicht gar irreführend, da «Sein und Zeit», pst_238.017 zum mindesten in der Ausdrucksweise, noch belastet ist pst_238.018 mit einer düsteren Strenge (fühlbar bereits im Begriff pst_238.019 des «Verfallens»), die kaum geeignet scheint, unser pst_238.020 Bemühen um das Wesen der Dichtung vorzubereiten. pst_238.021 Die späteren Schriften aber, weiter, heller und offener, pst_238.022 halten bewußt mit Analysen der Zeit zurück, obwohl pst_238.023 der Hauptgedanke Sein = Zeit noch immer vorausgesetzt pst_238.024 ist. So würde die Aufgabe darin bestehen, die Errungenschaften pst_238.025 von «Sein und Zeit» sich zunächst im pst_238.026 Geiste der Hölderlin-Studien, des «Wesens der Wahrheit» pst_238.027 anzueignen und dann die Brücke von ontologischer pst_238.028 zu ästhetischer Forschung zu schlagen. Wer aber pst_238.029 die Dichtung ergründen möchte, wer demnach von der pst_238.030 Erfahrung ihrer verwirrenden Fülle ausgeht und erst 1 pst_238.031 a. a. O. S. 346.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Technische Universität Darmstadt, Universität Stuttgart: Bereitstellung der Scan-Digitalisate und der Texttranskription. (2015-09-30T09:54:39Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
TextGrid/DARIAH-DE: Langfristige Bereitstellung der TextGrid/DARIAH-DE-Repository-Ausgabe
Stefan Alscher: Bearbeitung der digitalen Edition - Annotation des Metaphernbegriffs
Hans-Werner Bartz: Bearbeitung der digitalen Edition - Tustep-Unterstützung
Michael Bender: Bearbeitung der digitalen Edition - Koordination, Konzeption (Korpusaufbau, Annotationsschema, Workflow, Publikationsformen), Annotation des Metaphernbegriffs, XML-Auszeichnung)
Leonie Blumenschein: Bearbeitung der digitalen Edition - XML-Auszeichnung
David Glück: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung, Annotation des Metaphernbegriffs, XSL+JavaScript
Constanze Hahn: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung
Philipp Hegel: Bearbeitung der digitalen Edition - XML/XSL/CSS-Unterstützung
Andrea Rapp: ePoetics-Projekt-Koordination

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: keine Angabe; Druckfehler: keine Angabe; fremdsprachliches Material: gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage; i/j in Fraktur: wie Vorlage; I/J in Fraktur: wie Vorlage; Kolumnentitel: nicht übernommen; Kustoden: nicht übernommen; langes s (ſ): wie Vorlage; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): wie Vorlage; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: nicht übernommen; u/v bzw. U/V: wie Vorlage; Vokale mit übergest. e: wie Vorlage; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: ja;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/staiger_poetik_1946
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/staiger_poetik_1946/242
Zitationshilfe: Staiger, Emil: Grundbegriffe der Poetik. Zürich, 1946, S. 238. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/staiger_poetik_1946/242>, abgerufen am 24.11.2024.