Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Staiger, Emil: Grundbegriffe der Poetik. Zürich, 1946.

Bild:
<< vorherige Seite

pst_237.001
dramatischer Haltung, von der fragenden bis zur pst_237.002
leidenschaftlich ringenden, sicher zusammen.

pst_237.003

Der Lyriker, der Epiker und der Dramatiker also befassen pst_237.004
sich mit demselben Seienden, mit dem Strom des pst_237.005
Vergänglichen, der grundlos strömt. Doch jeder faßt es pst_237.006
anders auf. Die drei verschiedenen Auffassungen gründen pst_237.007
in der "ursprünglichen Zeit". Diese Zeit aber ist pst_237.008
das Sein des Menschen und ist das Sein des Seienden, pst_237.009
das der Mensch, als zeitigendes Wesen, "sein läßt". So pst_237.010
mündet die Poetik in das Problem von Martin Heideggers pst_237.011
"Sein und Zeit", das in den Schriften "Vom Wesen pst_237.012
des Grundes", "Kant und das Problem der Metaphysik", pst_237.013
"Vom Wesen der Wahrheit" und in den Hölderlin-Schriften pst_237.014
zur Reife gediehen ist. Da finden wir pst_237.015
zwar die Gattungen nirgends auch nur andeutungsweise pst_237.016
erwähnt. Doch da sich die Gattungsbegriffe als literaturwissenschaftliche pst_237.017
Namen für Möglichkeiten des pst_237.018
menschlichen Daseins enthüllten, kann es uns nicht pst_237.019
mehr erstaunen, wenn uns etwas so Allgemeines wie pst_237.020
eine Untersuchung über "Dasein und Zeitlichkeit" darauf pst_237.021
verweist. In dem Abschnitt von "Sein und Zeit", pst_237.022
der diesen Titel trägt, heißt es nämlich:

pst_237.023

"Ursprünglich existential gefaßt besagt Verstehen: pst_237.024
entwerfend Sein zu einem Seinkönnen, worumwillen pst_237.025
je das Dasein existiert1."

pst_237.026

Das Verstehen im Sinne eines fundamentalen Existentials pst_237.027
prägt sich dichterisch aus im dramatischen Stil.

pst_237.028

"Befindlichkeit gründet primär in der Gewesenheit pst_237.029
... der existentiale Grundcharakter der Stimmung ist pst_237.030
ein Zurückbringen auf2."

1 pst_237.031
a. a. O. S. 336.
2 pst_237.031
a. a. O. S. 340.

pst_237.001
dramatischer Haltung, von der fragenden bis zur pst_237.002
leidenschaftlich ringenden, sicher zusammen.

pst_237.003

  Der Lyriker, der Epiker und der Dramatiker also befassen pst_237.004
sich mit demselben Seienden, mit dem Strom des pst_237.005
Vergänglichen, der grundlos strömt. Doch jeder faßt es pst_237.006
anders auf. Die drei verschiedenen Auffassungen gründen pst_237.007
in der «ursprünglichen Zeit». Diese Zeit aber ist pst_237.008
das Sein des Menschen und ist das Sein des Seienden, pst_237.009
das der Mensch, als zeitigendes Wesen, «sein läßt». So pst_237.010
mündet die Poetik in das Problem von Martin Heideggers pst_237.011
«Sein und Zeit», das in den Schriften «Vom Wesen pst_237.012
des Grundes», «Kant und das Problem der Metaphysik», pst_237.013
«Vom Wesen der Wahrheit» und in den Hölderlin-Schriften pst_237.014
zur Reife gediehen ist. Da finden wir pst_237.015
zwar die Gattungen nirgends auch nur andeutungsweise pst_237.016
erwähnt. Doch da sich die Gattungsbegriffe als literaturwissenschaftliche pst_237.017
Namen für Möglichkeiten des pst_237.018
menschlichen Daseins enthüllten, kann es uns nicht pst_237.019
mehr erstaunen, wenn uns etwas so Allgemeines wie pst_237.020
eine Untersuchung über «Dasein und Zeitlichkeit» darauf pst_237.021
verweist. In dem Abschnitt von «Sein und Zeit», pst_237.022
der diesen Titel trägt, heißt es nämlich:

pst_237.023

  «Ursprünglich existential gefaßt besagt Verstehen: pst_237.024
entwerfend Sein zu einem Seinkönnen, worumwillen pst_237.025
je das Dasein existiert1

pst_237.026

  Das Verstehen im Sinne eines fundamentalen Existentials pst_237.027
prägt sich dichterisch aus im dramatischen Stil.

pst_237.028

  «Befindlichkeit gründet primär in der Gewesenheit pst_237.029
... der existentiale Grundcharakter der Stimmung ist pst_237.030
ein Zurückbringen auf2

1 pst_237.031
a. a. O. S. 336.
2 pst_237.031
a. a. O. S. 340.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0241" n="237"/><lb n="pst_237.001"/>
dramatischer Haltung, von der fragenden bis zur <lb n="pst_237.002"/>
leidenschaftlich ringenden, sicher zusammen.</p>
        <lb n="pst_237.003"/>
        <p>  Der Lyriker, der Epiker und der Dramatiker also befassen <lb n="pst_237.004"/>
sich mit demselben Seienden, mit dem Strom des <lb n="pst_237.005"/>
Vergänglichen, der grundlos strömt. Doch jeder faßt es <lb n="pst_237.006"/>
anders auf. Die drei verschiedenen Auffassungen gründen <lb n="pst_237.007"/>
in der «ursprünglichen Zeit». Diese Zeit aber ist <lb n="pst_237.008"/>
das Sein des Menschen und ist das Sein des Seienden, <lb n="pst_237.009"/>
das der Mensch, als zeitigendes Wesen, «sein läßt». So <lb n="pst_237.010"/>
mündet die Poetik in das Problem von Martin Heideggers <lb n="pst_237.011"/>
«Sein und Zeit», das in den Schriften «Vom Wesen <lb n="pst_237.012"/>
des Grundes», «Kant und das Problem der Metaphysik», <lb n="pst_237.013"/>
«Vom Wesen der Wahrheit» und in den Hölderlin-Schriften <lb n="pst_237.014"/>
zur Reife gediehen ist. Da finden wir <lb n="pst_237.015"/>
zwar die Gattungen nirgends auch nur andeutungsweise <lb n="pst_237.016"/>
erwähnt. Doch da sich die Gattungsbegriffe als literaturwissenschaftliche <lb n="pst_237.017"/>
Namen für Möglichkeiten des <lb n="pst_237.018"/>
menschlichen Daseins enthüllten, kann es uns nicht <lb n="pst_237.019"/>
mehr erstaunen, wenn uns etwas so Allgemeines wie <lb n="pst_237.020"/>
eine Untersuchung über «Dasein und Zeitlichkeit» darauf <lb n="pst_237.021"/>
verweist. In dem Abschnitt von «Sein und Zeit», <lb n="pst_237.022"/>
der diesen Titel trägt, heißt es nämlich:</p>
        <lb n="pst_237.023"/>
        <p>  «Ursprünglich existential gefaßt besagt Verstehen: <lb n="pst_237.024"/>
entwerfend Sein zu einem Seinkönnen, worumwillen <lb n="pst_237.025"/>
je das Dasein existiert<note xml:id="PST_237_1" place="foot" n="1"><lb n="pst_237.031"/>
a. a. O. S. 336.</note></p>
        <lb n="pst_237.026"/>
        <p>  Das Verstehen im Sinne eines fundamentalen Existentials <lb n="pst_237.027"/>
prägt sich dichterisch aus im dramatischen Stil.</p>
        <lb n="pst_237.028"/>
        <p>  «Befindlichkeit gründet primär in der Gewesenheit <lb n="pst_237.029"/>
... der existentiale Grundcharakter der Stimmung ist <lb n="pst_237.030"/>
ein Zurückbringen auf<note xml:id="PST_237_2" place="foot" n="2"><lb n="pst_237.031"/>
a. a. O. S. 340.</note></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[237/0241] pst_237.001 dramatischer Haltung, von der fragenden bis zur pst_237.002 leidenschaftlich ringenden, sicher zusammen. pst_237.003   Der Lyriker, der Epiker und der Dramatiker also befassen pst_237.004 sich mit demselben Seienden, mit dem Strom des pst_237.005 Vergänglichen, der grundlos strömt. Doch jeder faßt es pst_237.006 anders auf. Die drei verschiedenen Auffassungen gründen pst_237.007 in der «ursprünglichen Zeit». Diese Zeit aber ist pst_237.008 das Sein des Menschen und ist das Sein des Seienden, pst_237.009 das der Mensch, als zeitigendes Wesen, «sein läßt». So pst_237.010 mündet die Poetik in das Problem von Martin Heideggers pst_237.011 «Sein und Zeit», das in den Schriften «Vom Wesen pst_237.012 des Grundes», «Kant und das Problem der Metaphysik», pst_237.013 «Vom Wesen der Wahrheit» und in den Hölderlin-Schriften pst_237.014 zur Reife gediehen ist. Da finden wir pst_237.015 zwar die Gattungen nirgends auch nur andeutungsweise pst_237.016 erwähnt. Doch da sich die Gattungsbegriffe als literaturwissenschaftliche pst_237.017 Namen für Möglichkeiten des pst_237.018 menschlichen Daseins enthüllten, kann es uns nicht pst_237.019 mehr erstaunen, wenn uns etwas so Allgemeines wie pst_237.020 eine Untersuchung über «Dasein und Zeitlichkeit» darauf pst_237.021 verweist. In dem Abschnitt von «Sein und Zeit», pst_237.022 der diesen Titel trägt, heißt es nämlich: pst_237.023   «Ursprünglich existential gefaßt besagt Verstehen: pst_237.024 entwerfend Sein zu einem Seinkönnen, worumwillen pst_237.025 je das Dasein existiert 1.» pst_237.026   Das Verstehen im Sinne eines fundamentalen Existentials pst_237.027 prägt sich dichterisch aus im dramatischen Stil. pst_237.028   «Befindlichkeit gründet primär in der Gewesenheit pst_237.029 ... der existentiale Grundcharakter der Stimmung ist pst_237.030 ein Zurückbringen auf 2.» 1 pst_237.031 a. a. O. S. 336. 2 pst_237.031 a. a. O. S. 340.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Technische Universität Darmstadt, Universität Stuttgart: Bereitstellung der Scan-Digitalisate und der Texttranskription. (2015-09-30T09:54:39Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
TextGrid/DARIAH-DE: Langfristige Bereitstellung der TextGrid/DARIAH-DE-Repository-Ausgabe
Stefan Alscher: Bearbeitung der digitalen Edition - Annotation des Metaphernbegriffs
Hans-Werner Bartz: Bearbeitung der digitalen Edition - Tustep-Unterstützung
Michael Bender: Bearbeitung der digitalen Edition - Koordination, Konzeption (Korpusaufbau, Annotationsschema, Workflow, Publikationsformen), Annotation des Metaphernbegriffs, XML-Auszeichnung)
Leonie Blumenschein: Bearbeitung der digitalen Edition - XML-Auszeichnung
David Glück: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung, Annotation des Metaphernbegriffs, XSL+JavaScript
Constanze Hahn: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung
Philipp Hegel: Bearbeitung der digitalen Edition - XML/XSL/CSS-Unterstützung
Andrea Rapp: ePoetics-Projekt-Koordination

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: keine Angabe; Druckfehler: keine Angabe; fremdsprachliches Material: gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage; i/j in Fraktur: wie Vorlage; I/J in Fraktur: wie Vorlage; Kolumnentitel: nicht übernommen; Kustoden: nicht übernommen; langes s (ſ): wie Vorlage; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): wie Vorlage; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: nicht übernommen; u/v bzw. U/V: wie Vorlage; Vokale mit übergest. e: wie Vorlage; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: ja;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/staiger_poetik_1946
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/staiger_poetik_1946/241
Zitationshilfe: Staiger, Emil: Grundbegriffe der Poetik. Zürich, 1946, S. 237. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/staiger_poetik_1946/241>, abgerufen am 09.11.2024.