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Staiger, Emil: Grundbegriffe der Poetik. Zürich, 1946.

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In der falschen Anwendung des Zeichens besteht der pst_230.002
Irrtum und der Betrug. Was ihn ermöglicht, ist der Abstand, pst_230.003
den der Geist von den Dingen nimmt. Eine warnende pst_230.004
Stimme ruft ihn zurück. Der Mann erkennt, pst_230.005
warum ihn ein unermeßliches Sehnen zur Frau hinzieht. pst_230.006
Jede Gebärde der Liebe, der Kuß, der Verzicht pst_230.007
auf die freie, aufrechte Haltung, das Hinsinken und die pst_230.008
Vereinigung, in der ihn ein Vergessen alles gegenständlich pst_230.009
gewordenen Lebens und damit seines Selbst überkommt, pst_230.010
auf daß er es neu aus dem Ursprung gewinne: pst_230.011
jede Gebärde zeugt davon, wie viel der Geist der Seele pst_230.012
schuldet. Ähnlich ist es mit dem Erinnern der frühesten pst_230.013
Tage der Kindheit bestellt, da unser Geist unkräftig, pst_230.014
aber die Seele umso reicher war. Wer nicht mehr aus pst_230.015
der Tiefe solcher Erinnerung schöpfen kann und keine pst_230.016
Liebe erfahren durfte, verarmt. Wer freilich nur in der pst_230.017
Erinnerung bleibt, vermag sich selber nicht zu fassen pst_230.018
und anderen sich nicht mitzuteilen; der ist, ein dumpfer pst_230.019
Geist, auf wenige Gleichgestimmte angewiesen und pst_230.020
unzugänglich für den Anspruch einer sicher verbürgten pst_230.021
Gemeinschaft. Denn verbürgt, gefestigt wird eine Gemeinschaft pst_230.022
nur im dramatischen Geist, in explizit erfaßter pst_230.023
Welt, wo jedermann weiß, worum es geht, und pst_230.024
Worte des Glaubens und allgemein verbindliche Gesetze pst_230.025
ausgeprägt sind. Der Prinz von Homburg kennt pst_230.026
den Weg vom lyrischen zum dramatischen Sein, von pst_230.027
der träumerischen Individualität zum Selbst, das Träger pst_230.028
gemeinsamen Geistes ist. Wenn man absieht von der pst_230.029
moralischen Basis seiner Problemstellung, hat auch pst_230.030
Schiller in den "Briefen über die ästhetische Erziehung pst_230.031
des Menschen" dasselbe auszusprechen versucht. Die

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In der falschen Anwendung des Zeichens besteht der pst_230.002
Irrtum und der Betrug. Was ihn ermöglicht, ist der Abstand, pst_230.003
den der Geist von den Dingen nimmt. Eine warnende pst_230.004
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und anderen sich nicht mitzuteilen; der ist, ein dumpfer pst_230.019
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unzugänglich für den Anspruch einer sicher verbürgten pst_230.021
Gemeinschaft. Denn verbürgt, gefestigt wird eine Gemeinschaft pst_230.022
nur im dramatischen Geist, in explizit erfaßter pst_230.023
Welt, wo jedermann weiß, worum es geht, und pst_230.024
Worte des Glaubens und allgemein verbindliche Gesetze pst_230.025
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Zitationshilfe: Staiger, Emil: Grundbegriffe der Poetik. Zürich, 1946, S. 230. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/staiger_poetik_1946/234>, abgerufen am 09.05.2024.