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Staiger, Emil: Grundbegriffe der Poetik. Zürich, 1946.

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nur auf Schritt und Tritt der hellsten Erleuchtung pst_225.002
freuen dürfen. Die Sprache entwickelt sich ihrer Natur pst_225.003
nach vom emotionalen zum logischen Ausdruck. Aus pst_225.004
schriftlicher Überlieferung kann dies freilich mehr nur pst_225.005
erschlossen als im Einzelnen nachgewiesen werden. pst_225.006
Denn wenn eine Sprache sich schriftlich fixiert, ist der pst_225.007
Prozeß schon weit gediehen. So führt die Untersuchung, pst_225.008
wie schon bei Wilhelm von Humboldt, hinter die Literatur pst_225.009
zurück und beschäftigt sich ausgiebig mit primitiven pst_225.010
Völkern. Eine Fülle von Zeugnissen steht zur Verfügung. pst_225.011
Sie stimmen weithin überein. Jede Sprache pst_225.012
entwickelt sich in der angezeigten Richtung, nicht anders pst_225.013
als jeder Mensch sich vom Kind zum Jüngling, vom pst_225.014
Jüngling zum Mann und zum Greis entwickelt. In neuerem pst_225.015
Geist bewährt sich Herders Roman von den Lebensaltern pst_225.016
der Sprache. Und wie sich schon Herder sowohl pst_225.017
auf einzelne Menschen als ganze Völker bezieht, ist auch pst_225.018
bei Cassirer ersichtlich, daß jeder Einzelne noch den pst_225.019
Weg nimmt, den die Vorzeit hat bewältigen müssen. pst_225.020
Das kleine Kind bleibt lang auf die Phase des emotionalen pst_225.021
Ausdrucks beschränkt, bis seine Äußerungen allmählich pst_225.022
intentionale Bedeutung gewinnen und feste pst_225.023
Gegenstände bezeichnen. Gegenstände zu beziehen, Zusammenhänge pst_225.024
herzustellen, ist eine weitere Errungenschaft, pst_225.025
die, allen Eltern unvergeßlich, die ständige Frage pst_225.026
"Warum?" markiert. Freilich ist das Spätere immer pst_225.027
schon im Früheren angelegt, so wie im Knaben der pst_225.028
Jüngling schlummert, das Blatt schon auf die Blüte pst_225.029
weist. Und ebenso geht auf den höheren Stufen das Überwundene pst_225.030
nicht verloren. Es ist nicht vorbei, es ist "aufgehoben". pst_225.031
In einem Augenblick des Staunens kann dem

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nur auf Schritt und Tritt der hellsten Erleuchtung pst_225.002
freuen dürfen. Die Sprache entwickelt sich ihrer Natur pst_225.003
nach vom emotionalen zum logischen Ausdruck. Aus pst_225.004
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Prozeß schon weit gediehen. So führt die Untersuchung, pst_225.008
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Sie stimmen weithin überein. Jede Sprache pst_225.012
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Jüngling zum Mann und zum Greis entwickelt. In neuerem pst_225.015
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Weg nimmt, den die Vorzeit hat bewältigen müssen. pst_225.020
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Zitationshilfe: Staiger, Emil: Grundbegriffe der Poetik. Zürich, 1946, S. 225. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/staiger_poetik_1946/229>, abgerufen am 08.05.2024.