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Staiger, Emil: Grundbegriffe der Poetik. Zürich, 1946.

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schon im Ganzen ausgebildet hat, da also der Mensch pst_224.002
bereits die Stufe des Dramatischen betritt, von der aus pst_224.003
Lyrisches oder Episches erst einen Vorrang gewinnen pst_224.004
kann. Diesen Sachverhalt beachtet der Literarhistoriker pst_224.005
nicht, weil er sich seinem Nachweis entzieht. Er pst_224.006
greift auf die ältesten Texte zurück und findet schon pst_224.007
dort die Poesie, die an allen Gattungen Anteil hat. Mag pst_224.008
die Problematik immerhin noch wenig ausgebildet, die pst_224.009
Funktionalität im Satz oder in der Erzählung primitiv pst_224.010
sein: ohne Vorwurf, ohne Spannung irgendwelcher Art pst_224.011
geht auch der naivste Dichter nicht ans Werk. Warum pst_224.012
aber dann zunächst das Lyrische oder das Epische mehr pst_224.013
hervortritt, darüber kann uns keine "Philosophie der pst_224.014
Dichtung", sondern allein historisches Studium der unwiederholbaren pst_224.015
Lage eines Volkes, eines Dichters einige pst_224.016
Klarheit verschaffen.

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Wir nähern uns dem Punkt, wo sich zeigen muß, was pst_224.018
das Wesen einer Gattung eigentlich ist und worin sie pst_224.019
gründet. Hier nämlich, wo systematische Wissenschaft pst_224.020
von der Dichtung versagt, helfen Philosophie und Geschichte pst_224.021
der Sprache weiter. Die Stufenfolge lyrisch - pst_224.022
episch - dramatisch, Silbe - Wort - Satz entspricht den pst_224.023
von Cassirer1 beschriebenen Stufen der Sprache: die pst_224.024
Sprache in der Phase des sinnlichen Ausdrucks, die pst_224.025
Sprache in der Phase des anschaulichen Ausdrucks, die pst_224.026
Sprache als Ausdruck des begrifflichen Denkens. Die pst_224.027
"Philosophie der symbolischen Formen" verfolgt im ersten pst_224.028
Band den Weg der Sprache mit solcher Aufmerksamkeit, pst_224.029
daß wir nichts beizufügen haben, sondern uns

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Philosophie der symbolischen Formen, I. Teil, Berlin 1923.

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schon im Ganzen ausgebildet hat, da also der Mensch pst_224.002
bereits die Stufe des Dramatischen betritt, von der aus pst_224.003
Lyrisches oder Episches erst einen Vorrang gewinnen pst_224.004
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greift auf die ältesten Texte zurück und findet schon pst_224.007
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sein: ohne Vorwurf, ohne Spannung irgendwelcher Art pst_224.011
geht auch der naivste Dichter nicht ans Werk. Warum pst_224.012
aber dann zunächst das Lyrische oder das Epische mehr pst_224.013
hervortritt, darüber kann uns keine «Philosophie der pst_224.014
Dichtung», sondern allein historisches Studium der unwiederholbaren pst_224.015
Lage eines Volkes, eines Dichters einige pst_224.016
Klarheit verschaffen.

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  Wir nähern uns dem Punkt, wo sich zeigen muß, was pst_224.018
das Wesen einer Gattung eigentlich ist und worin sie pst_224.019
gründet. Hier nämlich, wo systematische Wissenschaft pst_224.020
von der Dichtung versagt, helfen Philosophie und Geschichte pst_224.021
der Sprache weiter. Die Stufenfolge lyrisch – pst_224.022
episch – dramatisch, Silbe – Wort – Satz entspricht den pst_224.023
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Zitationshilfe: Staiger, Emil: Grundbegriffe der Poetik. Zürich, 1946, S. 224. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/staiger_poetik_1946/228>, abgerufen am 08.05.2024.