Staiger, Emil: Grundbegriffe der Poetik. Zürich, 1946.pst_202.001 Das Tragische überfällt den dramatischen Helden aus pst_202.026 pst_202.001 Das Tragische überfällt den dramatischen Helden aus pst_202.026 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0206" n="202"/><lb n="pst_202.001"/> ihn kennen gelernt als Kraft, die das Einzelne fest zusammenhält <lb n="pst_202.002"/> und auf das Letzte, das Problem, bezieht. <lb n="pst_202.003"/> Dem Epiker fehlt die Konsequenz. Seine Welt ist nicht <lb n="pst_202.004"/> gefestigt. Deshalb kann sie nicht zerbrechen. Seine Vergeßlichkeit <lb n="pst_202.005"/> beschützt ihn vor jeder Erkenntnis, die tödlich <lb n="pst_202.006"/> wäre. Wenn etwas einstürzt, so reißt der Sturz <lb n="pst_202.007"/> nicht gleich das ganze Gebäude mit. Denn die Teile sind <lb n="pst_202.008"/> selbständig. Er blickt das Fatale staunend an und wendet <lb n="pst_202.009"/> sich dem Nächsten zu. Erst recht vermag der Lyriker <lb n="pst_202.010"/> keine tragische Einsicht zu gewinnen. Sieht er doch <lb n="pst_202.011"/> überhaupt nichts und spricht er doch – als Lyriker – <lb n="pst_202.012"/> nur, solang er eins ist mit den Dingen. Der dramatische <lb n="pst_202.013"/> Geist jedoch ist stets der Gefahr des Tragischen ausgesetzt. <lb n="pst_202.014"/> Nicht daß sie immer hereinbrechen müßte, sobald <lb n="pst_202.015"/> er sein Werk zu Ende führt. Es ist wohl möglich, <lb n="pst_202.016"/> daß zuletzt alles, worauf er es abgesehen hat, stimmt <lb n="pst_202.017"/> und ihn befriedigt als Bewußtsein einer dauerhaften <lb n="pst_202.018"/> Struktur. Je konsequenter er aber ist, je kräftiger er die <lb n="pst_202.019"/> Frage «Worumwillen?» ständig vorwärts treibt, desto <lb n="pst_202.020"/> eher dringt er bis zur Grenze des Unvereinbaren vor. <lb n="pst_202.021"/> Denn jede Idee, jede Welt ist endlich. Und nur vor <lb n="pst_202.022"/> einem unbekannten Gott geht alles Lebendige auf. <lb n="pst_202.023"/> Tragik also erweist sich als ein zwar nicht gefordertes, <lb n="pst_202.024"/> aber jederzeit mögliches Resultat dramatischen Stils.</p> <lb n="pst_202.025"/> <p> Das Tragische überfällt den dramatischen Helden aus <lb n="pst_202.026"/> dem Hinterhalt. Er blickt voraus auf sein Problem, auf <lb n="pst_202.027"/> seinen Gott oder seine Idee. Was mit der Idee nichts zu <lb n="pst_202.028"/> schaffen hat, das läßt er – so wurde angedeutet – beiseite <lb n="pst_202.029"/> und achtet nicht darauf. Nun kann es jedoch geschehen, <lb n="pst_202.030"/> daß, was er beiseite läßt, zwar nichts mit seiner Idee zu <lb n="pst_202.031"/> schaffen hat, aber keineswegs gleichgültig, sondern feindlich </p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [202/0206]
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ihn kennen gelernt als Kraft, die das Einzelne fest zusammenhält pst_202.002
und auf das Letzte, das Problem, bezieht. pst_202.003
Dem Epiker fehlt die Konsequenz. Seine Welt ist nicht pst_202.004
gefestigt. Deshalb kann sie nicht zerbrechen. Seine Vergeßlichkeit pst_202.005
beschützt ihn vor jeder Erkenntnis, die tödlich pst_202.006
wäre. Wenn etwas einstürzt, so reißt der Sturz pst_202.007
nicht gleich das ganze Gebäude mit. Denn die Teile sind pst_202.008
selbständig. Er blickt das Fatale staunend an und wendet pst_202.009
sich dem Nächsten zu. Erst recht vermag der Lyriker pst_202.010
keine tragische Einsicht zu gewinnen. Sieht er doch pst_202.011
überhaupt nichts und spricht er doch – als Lyriker – pst_202.012
nur, solang er eins ist mit den Dingen. Der dramatische pst_202.013
Geist jedoch ist stets der Gefahr des Tragischen ausgesetzt. pst_202.014
Nicht daß sie immer hereinbrechen müßte, sobald pst_202.015
er sein Werk zu Ende führt. Es ist wohl möglich, pst_202.016
daß zuletzt alles, worauf er es abgesehen hat, stimmt pst_202.017
und ihn befriedigt als Bewußtsein einer dauerhaften pst_202.018
Struktur. Je konsequenter er aber ist, je kräftiger er die pst_202.019
Frage «Worumwillen?» ständig vorwärts treibt, desto pst_202.020
eher dringt er bis zur Grenze des Unvereinbaren vor. pst_202.021
Denn jede Idee, jede Welt ist endlich. Und nur vor pst_202.022
einem unbekannten Gott geht alles Lebendige auf. pst_202.023
Tragik also erweist sich als ein zwar nicht gefordertes, pst_202.024
aber jederzeit mögliches Resultat dramatischen Stils.
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Das Tragische überfällt den dramatischen Helden aus pst_202.026
dem Hinterhalt. Er blickt voraus auf sein Problem, auf pst_202.027
seinen Gott oder seine Idee. Was mit der Idee nichts zu pst_202.028
schaffen hat, das läßt er – so wurde angedeutet – beiseite pst_202.029
und achtet nicht darauf. Nun kann es jedoch geschehen, pst_202.030
daß, was er beiseite läßt, zwar nichts mit seiner Idee zu pst_202.031
schaffen hat, aber keineswegs gleichgültig, sondern feindlich
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