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Staiger, Emil: Grundbegriffe der Poetik. Zürich, 1946.

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unwiderrufliches Scheitern sei gemeint, eine tödliche pst_200.002
Verzweiflung, die nicht mehr weiß, wo aus und ein. pst_200.003
Dieses Ereignis zu benennen, brauchen wir ein bestimmtes pst_200.004
Wort. Als einziges ähnlicher Intention bietet sich pst_200.005
der im deutschen Idealismus gebräuchliche Ausdruck pst_200.006
an. Wir nehmen dabei den Widerspruch zur älteren pst_200.007
Tradition in Kauf und sind uns bewußt, daß bei weitem pst_200.008
nicht jedes Bühnenwerk, das "Tragödie" heißt, als pst_200.009
"tragisch" bezeichnet werden darf. Auch dies bedeutet pst_200.010
kein Werturteil. Viele nicht tragische, wenngleich pst_200.011
schmerzliche und erschütternde Werke Shakespeares pst_200.012
sind zweifellos bedeutender als die tragische "Familie pst_200.013
Schroffenstein". Schillers spätere Dramen, in denen ein pst_200.014
letzter Sinn nicht in Frage gestellt wird, haben ihre pst_200.015
schätzbaren Vorzüge gegenüber den tragischen "Räubern".

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Überhaupt ist "Tragik", so verstanden, zunächst pst_200.018
kein Begriff der Dramaturgie, sondern gehört in die pst_200.019
Metaphysik. Ein Skeptiker, der an der Wahrheit scheitert, pst_200.020
dem es mit seiner Skepsis ernst ist, der, verzweifelnd, pst_200.021
seinem sinnlosen Dasein ein Ende bereitet; ein pst_200.022
gläubiger Mensch, dessen Ringen um Gott durch ein pst_200.023
entsetzliches Ereignis, wie jenes Erdbeben von Lissabon pst_200.024
im 18. Jahrhundert, gleichsam verhöhnt wird, so, pst_200.025
daß er sich nicht mehr zurechtfinden kann; ein Liebender, pst_200.026
der, wie Werther, vom einzigen Wert der pst_200.027
Leidenschaft überzeugt ist und wahrnehmen muß, daß pst_200.028
seine Leidenschaft ihn selbst und die andern vernichtet: pst_200.029
sie alle sind tragische Gestalten und geraten in jene pst_200.030
Grenzsituation, in der alle Orientierung und also im pst_200.031
Grunde das menschliche Dasein aufhört. Ihr Gott ist

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unwiderrufliches Scheitern sei gemeint, eine tödliche pst_200.002
Verzweiflung, die nicht mehr weiß, wo aus und ein. pst_200.003
Dieses Ereignis zu benennen, brauchen wir ein bestimmtes pst_200.004
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Tradition in Kauf und sind uns bewußt, daß bei weitem pst_200.008
nicht jedes Bühnenwerk, das «Tragödie» heißt, als pst_200.009
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kein Werturteil. Viele nicht tragische, wenngleich pst_200.011
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sind zweifellos bedeutender als die tragische «Familie pst_200.013
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schätzbaren Vorzüge gegenüber den tragischen «Räubern».

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  Überhaupt ist «Tragik», so verstanden, zunächst pst_200.018
kein Begriff der Dramaturgie, sondern gehört in die pst_200.019
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dem es mit seiner Skepsis ernst ist, der, verzweifelnd, pst_200.021
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Zitationshilfe: Staiger, Emil: Grundbegriffe der Poetik. Zürich, 1946, S. 200. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/staiger_poetik_1946/204>, abgerufen am 08.05.2024.