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Staiger, Emil: Grundbegriffe der Poetik. Zürich, 1946.

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ausgedrückt, wird der Rahmen der Welt eines pst_199.002
Menschen oder wohl gar eines Volks oder Standes gesprengt.

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Dieser Gebrauch des Worts bedarf indessen einer pst_199.005
Rechtfertigung. Es stammt aus dem Griechischen und pst_199.006
kennzeichnet die Poesie der Tragiker Aischylos, Sophokles pst_199.007
und Euripides. Nun läßt sich nicht verkennen, daß pst_199.008
viele Bühnenwerke dieser Dichter, die alle Tragödien pst_199.009
heißen, der Tragik im eben umschriebenen Sinn entbehren. pst_199.010
Die "Orestie" des Aischylos, der Sophokleische pst_199.011
"Philoktet", die "Iphigenie bei den Taurern" von Euripides pst_199.012
enden nicht tragisch. Vielmehr wird das im Lauf pst_199.013
des Geschehens oft gefährdete Verhältnis zwischen den pst_199.014
Menschen und den Göttern am Schluß entschieden wieder pst_199.015
befestigt, so, daß kein Zweifel bleibt und jedermann pst_199.016
weiß, woran er ist. Ebensowenig stimmt die aristotelische pst_199.017
Lehre von der Katharsis, wie man sie auch auslegen pst_199.018
mag, zu unsrer Erklärung des Begriffs. Unser Begriff pst_199.019
hängt allein zusammen mit der von Goethe, Schelling, pst_199.020
Hegel und Hebbel versuchten Deutung einer bestimmten pst_199.021
Grenzsituation, in der die Weltanschauung pst_199.022
des Idealismus in eine Krise gerät. Diese Deutung aber pst_199.023
trifft wieder nur eine besondere Möglichkeit dessen, pst_199.024
was wir als tragische Krise bezeichnen, nämlich nur gerade pst_199.025
jene, die aus dem unlösbaren Widerspruch von Freiheit pst_199.026
und Schicksal hervorgeht. Von solcher Befangenheit pst_199.027
möchte sich die neue Begriffsbestimmung befreien. pst_199.028
Nicht allein die Krise der idealistischen Welt soll tragisch pst_199.029
heißen, sondern die jeder möglichen Welt, der antiken pst_199.030
sowohl wie der bürgerlichen, der christlichen wie pst_199.031
der germanischen. Und nicht nur die Krise, sondern ein

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Menschen oder wohl gar eines Volks oder Standes gesprengt.

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  Dieser Gebrauch des Worts bedarf indessen einer pst_199.005
Rechtfertigung. Es stammt aus dem Griechischen und pst_199.006
kennzeichnet die Poesie der Tragiker Aischylos, Sophokles pst_199.007
und Euripides. Nun läßt sich nicht verkennen, daß pst_199.008
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heißen, der Tragik im eben umschriebenen Sinn entbehren. pst_199.010
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«Philoktet», die «Iphigenie bei den Taurern» von Euripides pst_199.012
enden nicht tragisch. Vielmehr wird das im Lauf pst_199.013
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trifft wieder nur eine besondere Möglichkeit dessen, pst_199.024
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Nicht allein die Krise der idealistischen Welt soll tragisch pst_199.029
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Zitationshilfe: Staiger, Emil: Grundbegriffe der Poetik. Zürich, 1946, S. 199. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/staiger_poetik_1946/203>, abgerufen am 08.05.2024.