Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Staiger, Emil: Grundbegriffe der Poetik. Zürich, 1946.

Bild:
<< vorherige Seite

pst_196.001
er sich für die Pflicht zu entscheiden. Zu begründen gibt pst_196.002
es da weiter nichts. Der kategorische Imperativ trägt pst_196.003
seine Begründung in sich selbst und gibt sich unmißverständlich pst_196.004
als die höchste Gerichtsbehörde kund.

pst_196.005

Der Dichter steht auf der Seite von Max und würde pst_196.006
mit dem Propheten sprechen: "Es ist dir gesagt, o pst_196.007
Mensch, was gut ist." Maxens Gespräch mit Wallenstein pst_196.008
deckt die Schrift des Gesetzes auf, vor dem sich alles pst_196.009
menschliche Handeln, also auch Wallensteins Tat zu pst_196.010
verantworten hat. Es enthüllt die idealistische Welt, pst_196.011
auf die das ganze Geschehen ankommt, Schillers Problem, pst_196.012
auf das er es schon vom ersten Auftritt an abgesehen pst_196.013
hat. Was folgt und was der Dichter aus technischen pst_196.014
Gründen vielleicht zu sehr ausdehnt, ist nur der pst_196.015
Vollzug des Urteilsspruchs.

pst_196.016

Die kurze Betrachtung zeigt, daß einzig die unerbittliche pst_196.017
Konsequenz zur letzten Frage, die doch im Grunde pst_196.018
die erste ist, vorzudringen vermag. Es ist dem Menschen pst_196.019
jederzeit möglich, abzubrechen und sich zu bescheiden. pst_196.020
Die Soldateska läßt sich gar nicht auf Fragen pst_196.021
ein und lebt wohl dabei. Freilich entbehrt sie darum pst_196.022
der Würde. Sogar Iokaste aber, im "König Ödipus", pst_196.023
ruft ihrem Gatten zu:

pst_196.024
"O gib es auf, zu deuten, was sie fragen!"

(V. 1057)

pst_196.025

Gelänge es ihr, die Frage zu unterdrücken, so würde pst_196.026
sie zur Angst, die das Leben von innen heraus verzehrt pst_196.027
und aller vermeintlichen Schonung spottet. Sie teilte pst_196.028
Klytaimnestras Los. Denn wer berufen ist zum Problem, pst_196.029
entzieht sich ihm nicht ungestraft. Er findet keine Ruhe, pst_196.030
bis er denkend alles ins Reine gebracht und handelnd

pst_196.001
er sich für die Pflicht zu entscheiden. Zu begründen gibt pst_196.002
es da weiter nichts. Der kategorische Imperativ trägt pst_196.003
seine Begründung in sich selbst und gibt sich unmißverständlich pst_196.004
als die höchste Gerichtsbehörde kund.

pst_196.005

  Der Dichter steht auf der Seite von Max und würde pst_196.006
mit dem Propheten sprechen: «Es ist dir gesagt, o pst_196.007
Mensch, was gut ist.» Maxens Gespräch mit Wallenstein pst_196.008
deckt die Schrift des Gesetzes auf, vor dem sich alles pst_196.009
menschliche Handeln, also auch Wallensteins Tat zu pst_196.010
verantworten hat. Es enthüllt die idealistische Welt, pst_196.011
auf die das ganze Geschehen ankommt, Schillers Problem, pst_196.012
auf das er es schon vom ersten Auftritt an abgesehen pst_196.013
hat. Was folgt und was der Dichter aus technischen pst_196.014
Gründen vielleicht zu sehr ausdehnt, ist nur der pst_196.015
Vollzug des Urteilsspruchs.

pst_196.016

  Die kurze Betrachtung zeigt, daß einzig die unerbittliche pst_196.017
Konsequenz zur letzten Frage, die doch im Grunde pst_196.018
die erste ist, vorzudringen vermag. Es ist dem Menschen pst_196.019
jederzeit möglich, abzubrechen und sich zu bescheiden. pst_196.020
Die Soldateska läßt sich gar nicht auf Fragen pst_196.021
ein und lebt wohl dabei. Freilich entbehrt sie darum pst_196.022
der Würde. Sogar Iokaste aber, im «König Ödipus», pst_196.023
ruft ihrem Gatten zu:

pst_196.024
«O gib es auf, zu deuten, was sie fragen!»

(V. 1057)

pst_196.025

  Gelänge es ihr, die Frage zu unterdrücken, so würde pst_196.026
sie zur Angst, die das Leben von innen heraus verzehrt pst_196.027
und aller vermeintlichen Schonung spottet. Sie teilte pst_196.028
Klytaimnestras Los. Denn wer berufen ist zum Problem, pst_196.029
entzieht sich ihm nicht ungestraft. Er findet keine Ruhe, pst_196.030
bis er denkend alles ins Reine gebracht und handelnd

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0200" n="196"/><lb n="pst_196.001"/>
er sich für die Pflicht zu entscheiden. Zu begründen gibt <lb n="pst_196.002"/>
es da weiter nichts. Der kategorische Imperativ trägt <lb n="pst_196.003"/>
seine Begründung in sich selbst und gibt sich unmißverständlich <lb n="pst_196.004"/>
als die höchste Gerichtsbehörde kund.</p>
          <lb n="pst_196.005"/>
          <p>  Der Dichter steht auf der Seite von Max und würde <lb n="pst_196.006"/>
mit dem Propheten sprechen: «Es ist dir gesagt, o <lb n="pst_196.007"/>
Mensch, was gut ist.» Maxens Gespräch mit Wallenstein <lb n="pst_196.008"/>
deckt die Schrift des Gesetzes auf, vor dem sich alles <lb n="pst_196.009"/>
menschliche Handeln, also auch Wallensteins Tat zu <lb n="pst_196.010"/>
verantworten hat. Es enthüllt die idealistische Welt, <lb n="pst_196.011"/>
auf die das ganze Geschehen ankommt, Schillers Problem, <lb n="pst_196.012"/>
auf das er es schon vom ersten Auftritt an abgesehen <lb n="pst_196.013"/>
hat. Was folgt und was der Dichter aus technischen <lb n="pst_196.014"/>
Gründen vielleicht zu sehr ausdehnt, ist nur der <lb n="pst_196.015"/>
Vollzug des Urteilsspruchs.</p>
          <lb n="pst_196.016"/>
          <p>  Die kurze Betrachtung zeigt, daß einzig die unerbittliche <lb n="pst_196.017"/>
Konsequenz zur letzten Frage, die doch im Grunde <lb n="pst_196.018"/>
die erste ist, vorzudringen vermag. Es ist dem Menschen <lb n="pst_196.019"/>
jederzeit möglich, abzubrechen und sich zu bescheiden. <lb n="pst_196.020"/>
Die Soldateska läßt sich gar nicht auf Fragen <lb n="pst_196.021"/>
ein und lebt wohl dabei. Freilich entbehrt sie darum <lb n="pst_196.022"/>
der Würde. Sogar Iokaste aber, im «König Ödipus», <lb n="pst_196.023"/>
ruft ihrem Gatten zu:</p>
          <lb n="pst_196.024"/>
          <lg>
            <l>«O gib es auf, zu deuten, was sie fragen!»</l>
          </lg>
          <p> (V. 1057)</p>
          <lb n="pst_196.025"/>
          <p>  Gelänge es ihr, die Frage zu unterdrücken, so würde <lb n="pst_196.026"/>
sie zur Angst, die das Leben von innen heraus verzehrt <lb n="pst_196.027"/>
und aller vermeintlichen Schonung spottet. Sie teilte <lb n="pst_196.028"/>
Klytaimnestras Los. Denn wer berufen ist zum Problem, <lb n="pst_196.029"/>
entzieht sich ihm nicht ungestraft. Er findet keine Ruhe, <lb n="pst_196.030"/>
bis er denkend alles ins Reine gebracht und handelnd
</p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[196/0200] pst_196.001 er sich für die Pflicht zu entscheiden. Zu begründen gibt pst_196.002 es da weiter nichts. Der kategorische Imperativ trägt pst_196.003 seine Begründung in sich selbst und gibt sich unmißverständlich pst_196.004 als die höchste Gerichtsbehörde kund. pst_196.005   Der Dichter steht auf der Seite von Max und würde pst_196.006 mit dem Propheten sprechen: «Es ist dir gesagt, o pst_196.007 Mensch, was gut ist.» Maxens Gespräch mit Wallenstein pst_196.008 deckt die Schrift des Gesetzes auf, vor dem sich alles pst_196.009 menschliche Handeln, also auch Wallensteins Tat zu pst_196.010 verantworten hat. Es enthüllt die idealistische Welt, pst_196.011 auf die das ganze Geschehen ankommt, Schillers Problem, pst_196.012 auf das er es schon vom ersten Auftritt an abgesehen pst_196.013 hat. Was folgt und was der Dichter aus technischen pst_196.014 Gründen vielleicht zu sehr ausdehnt, ist nur der pst_196.015 Vollzug des Urteilsspruchs. pst_196.016   Die kurze Betrachtung zeigt, daß einzig die unerbittliche pst_196.017 Konsequenz zur letzten Frage, die doch im Grunde pst_196.018 die erste ist, vorzudringen vermag. Es ist dem Menschen pst_196.019 jederzeit möglich, abzubrechen und sich zu bescheiden. pst_196.020 Die Soldateska läßt sich gar nicht auf Fragen pst_196.021 ein und lebt wohl dabei. Freilich entbehrt sie darum pst_196.022 der Würde. Sogar Iokaste aber, im «König Ödipus», pst_196.023 ruft ihrem Gatten zu: pst_196.024 «O gib es auf, zu deuten, was sie fragen!» (V. 1057) pst_196.025   Gelänge es ihr, die Frage zu unterdrücken, so würde pst_196.026 sie zur Angst, die das Leben von innen heraus verzehrt pst_196.027 und aller vermeintlichen Schonung spottet. Sie teilte pst_196.028 Klytaimnestras Los. Denn wer berufen ist zum Problem, pst_196.029 entzieht sich ihm nicht ungestraft. Er findet keine Ruhe, pst_196.030 bis er denkend alles ins Reine gebracht und handelnd

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Technische Universität Darmstadt, Universität Stuttgart: Bereitstellung der Scan-Digitalisate und der Texttranskription. (2015-09-30T09:54:39Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
TextGrid/DARIAH-DE: Langfristige Bereitstellung der TextGrid/DARIAH-DE-Repository-Ausgabe
Stefan Alscher: Bearbeitung der digitalen Edition - Annotation des Metaphernbegriffs
Hans-Werner Bartz: Bearbeitung der digitalen Edition - Tustep-Unterstützung
Michael Bender: Bearbeitung der digitalen Edition - Koordination, Konzeption (Korpusaufbau, Annotationsschema, Workflow, Publikationsformen), Annotation des Metaphernbegriffs, XML-Auszeichnung)
Leonie Blumenschein: Bearbeitung der digitalen Edition - XML-Auszeichnung
David Glück: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung, Annotation des Metaphernbegriffs, XSL+JavaScript
Constanze Hahn: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung
Philipp Hegel: Bearbeitung der digitalen Edition - XML/XSL/CSS-Unterstützung
Andrea Rapp: ePoetics-Projekt-Koordination

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: keine Angabe; Druckfehler: keine Angabe; fremdsprachliches Material: gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage; i/j in Fraktur: wie Vorlage; I/J in Fraktur: wie Vorlage; Kolumnentitel: nicht übernommen; Kustoden: nicht übernommen; langes s (ſ): wie Vorlage; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): wie Vorlage; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: nicht übernommen; u/v bzw. U/V: wie Vorlage; Vokale mit übergest. e: wie Vorlage; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: ja;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/staiger_poetik_1946
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/staiger_poetik_1946/200
Zitationshilfe: Staiger, Emil: Grundbegriffe der Poetik. Zürich, 1946, S. 196. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/staiger_poetik_1946/200>, abgerufen am 30.04.2024.