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Staiger, Emil: Grundbegriffe der Poetik. Zürich, 1946.

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daß die Heldin, Hedda Gabler, an ihren Vater und pst_182.002
seine vornehme Lebensweise gebunden bleibt. Durch pst_182.003
die Fenster schimmert das farbige Laub des Herbstes, pst_182.004
um ihr Gemüt mit Welken und Vergehen zu ängstigen. pst_182.005
Der Dichter gibt ihr leicht schütteres Haar, um sie wenigstens pst_182.006
in einen Nachteil gegen Frau Elvsted zu setzen pst_182.007
und ihrer Eifersucht Nahrung zu geben. Alles ist pst_182.008
durch ein "um zu" bestimmt und fordert die Frage pst_182.009
"Worumwillen?" So geht es auch in den Gesprächen pst_182.010
fort. Jeder Satz, so ungezwungen und zufällig alles aussehen pst_182.011
mag, hat seine ganz bestimmte Absicht. Man pst_182.012
wäre beinah versucht, zu sagen, zum vollen und sicheren pst_182.013
Verständnis sei kein einziger Satz des Stücks entbehrlich. pst_182.014
Die Funktionalität der Teile ist bis ins Letzte pst_182.015
durchgeführt. Und wenn man zunächst noch annehmen pst_182.016
möchte, das Drama laufe auf eine interessante pst_182.017
Charakterstudie hinaus, so überzeugt man sich schließlich, pst_182.018
daß auch Hedda selber zu etwas da ist, dazu nämlich, pst_182.019
die Frage nach dem Wert der bürgerlichen Gesellschaft, pst_182.020
nach dem Verhältnis von adliger Einzigartigkeit pst_182.021
und durchschnittlicher Ordnung, von unfruchtbarer pst_182.022
Schönheit und lebenerhaltender Öde aufzuwerfen. Die pst_182.023
Handlung deutet auf ein "Problem" - im herkömmlichen pst_182.024
Sinn des Begriffs, der aber nur eine Steigerung des pst_182.025
"Vorwurfs" im weiteren Sinne bildet. Das ideelle Problem pst_182.026
ist das, worauf es in letzter - vom Dichter aus gesehen pst_182.027
in erster - Hinsicht ankommt. Und wie die Sentenzen pst_182.028
im Gespräch eine Art von Zwischensumme ziehen, pst_182.029
so ließen sich Schlußsentenzen denken, welche das pst_182.030
Ganze zusammenfassen oder weitergeben als Frage. pst_182.031
Schiller hat sich dazu in der "Braut von Messina" entschlossen,

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Zitationshilfe: Staiger, Emil: Grundbegriffe der Poetik. Zürich, 1946, S. 182. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/staiger_poetik_1946/186>, abgerufen am 30.04.2024.