Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Staiger, Emil: Grundbegriffe der Poetik. Zürich, 1946.

Bild:
<< vorherige Seite

pst_177.001
Publikum sich keinen Augenblick gehen lassen. Wer pst_177.002
etwas vergißt, der läuft Gefahr, daß ihm das Ganze pst_177.003
dunkel bleibt.

pst_177.004

Damit sind jedoch abermals Forderungen ausgesprochen, pst_177.005
die man von jeher an den dramatischen Dichter pst_177.006
gestellt hat. Wieder wird die Bühne bedeutsam, aber pst_177.007
nun nicht als Podium, als Erhöhung dessen, der voraus pst_177.008
ist, sondern als szenischer Rahmen, in dem sich ein weitverzweigtes pst_177.009
Geschehen abspielt. Das Publikum versammelt pst_177.010
sich, sei es nun um die antike Orchestra, sei es vor pst_177.011
den Brettern, die in neuerer Zeit die Welt bedeuten pst_177.012
müssen. Einige Stunden hält es aus und richtet die Augen pst_177.013
auf den einen Raum, in dem sich die Handlung bewegt. pst_177.014
Damit hat man den Satz von der Einheit des Orts, der pst_177.015
Zeit und der Handlung begründet. Im neueren Drama pst_177.016
fällt der Chor weg, der bei den Griechen vom Anfang pst_177.017
bis zum Schluß auf der Bühne verharrt. Außerdem pst_177.018
wird es möglich, mit Kulissen die Szene beliebig zu pst_177.019
ändern. Infolgedessen glaubte man, gestützt zumal auf pst_177.020
das Beispiel Shakespeares, das alte Gesetz aufheben zu pst_177.021
dürfen. Allein, die historischen Befunde entsprechen pst_177.022
diesem Gedankengang nicht. Shakespeare kennt noch pst_177.023
keine Kulissen. Dennoch verändert er nach Belieben die pst_177.024
Szene und zieht eine Handlung über Wochen oder gar pst_177.025
Monate hin. Das Theater des Barock entfaltet den üppigsten pst_177.026
szenischen Prunk. Die Lust an Verwandlungen, pst_177.027
Maschinerien, an Bühneneffekten aller Art ist grenzenlos pst_177.028
und wird im Ballett, in der Oper mit Leidenschaft pst_177.029
ausgekostet. Corneille und Racine aber halten fest an pst_177.030
der Einheit des Orts und der Zeit; und niemand wird pst_177.031
glauben, einzig das Vorbild der Griechen habe sie dazu

pst_177.001
Publikum sich keinen Augenblick gehen lassen. Wer pst_177.002
etwas vergißt, der läuft Gefahr, daß ihm das Ganze pst_177.003
dunkel bleibt.

pst_177.004

  Damit sind jedoch abermals Forderungen ausgesprochen, pst_177.005
die man von jeher an den dramatischen Dichter pst_177.006
gestellt hat. Wieder wird die Bühne bedeutsam, aber pst_177.007
nun nicht als Podium, als Erhöhung dessen, der voraus pst_177.008
ist, sondern als szenischer Rahmen, in dem sich ein weitverzweigtes pst_177.009
Geschehen abspielt. Das Publikum versammelt pst_177.010
sich, sei es nun um die antike Orchestra, sei es vor pst_177.011
den Brettern, die in neuerer Zeit die Welt bedeuten pst_177.012
müssen. Einige Stunden hält es aus und richtet die Augen pst_177.013
auf den einen Raum, in dem sich die Handlung bewegt. pst_177.014
Damit hat man den Satz von der Einheit des Orts, der pst_177.015
Zeit und der Handlung begründet. Im neueren Drama pst_177.016
fällt der Chor weg, der bei den Griechen vom Anfang pst_177.017
bis zum Schluß auf der Bühne verharrt. Außerdem pst_177.018
wird es möglich, mit Kulissen die Szene beliebig zu pst_177.019
ändern. Infolgedessen glaubte man, gestützt zumal auf pst_177.020
das Beispiel Shakespeares, das alte Gesetz aufheben zu pst_177.021
dürfen. Allein, die historischen Befunde entsprechen pst_177.022
diesem Gedankengang nicht. Shakespeare kennt noch pst_177.023
keine Kulissen. Dennoch verändert er nach Belieben die pst_177.024
Szene und zieht eine Handlung über Wochen oder gar pst_177.025
Monate hin. Das Theater des Barock entfaltet den üppigsten pst_177.026
szenischen Prunk. Die Lust an Verwandlungen, pst_177.027
Maschinerien, an Bühneneffekten aller Art ist grenzenlos pst_177.028
und wird im Ballett, in der Oper mit Leidenschaft pst_177.029
ausgekostet. Corneille und Racine aber halten fest an pst_177.030
der Einheit des Orts und der Zeit; und niemand wird pst_177.031
glauben, einzig das Vorbild der Griechen habe sie dazu

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0181" n="177"/><lb n="pst_177.001"/>
Publikum sich keinen Augenblick gehen lassen. Wer <lb n="pst_177.002"/>
etwas vergißt, der läuft Gefahr, daß ihm das Ganze <lb n="pst_177.003"/>
dunkel bleibt.</p>
          <lb n="pst_177.004"/>
          <p>  Damit sind jedoch abermals Forderungen ausgesprochen, <lb n="pst_177.005"/>
die man von jeher an den dramatischen Dichter <lb n="pst_177.006"/>
gestellt hat. Wieder wird die Bühne bedeutsam, aber <lb n="pst_177.007"/>
nun nicht als Podium, als Erhöhung dessen, der voraus <lb n="pst_177.008"/>
ist, sondern als szenischer Rahmen, in dem sich ein weitverzweigtes <lb n="pst_177.009"/>
Geschehen abspielt. Das Publikum versammelt <lb n="pst_177.010"/>
sich, sei es nun um die antike Orchestra, sei es vor <lb n="pst_177.011"/>
den Brettern, die in neuerer Zeit die Welt bedeuten <lb n="pst_177.012"/>
müssen. Einige Stunden hält es aus und richtet die Augen <lb n="pst_177.013"/>
auf den einen Raum, in dem sich die Handlung bewegt. <lb n="pst_177.014"/>
Damit hat man den Satz von der Einheit des Orts, der <lb n="pst_177.015"/>
Zeit und der Handlung begründet. Im neueren Drama <lb n="pst_177.016"/>
fällt der Chor weg, der bei den Griechen vom Anfang <lb n="pst_177.017"/>
bis zum Schluß auf der Bühne verharrt. Außerdem <lb n="pst_177.018"/>
wird es möglich, mit Kulissen die Szene beliebig zu <lb n="pst_177.019"/>
ändern. Infolgedessen glaubte man, gestützt zumal auf <lb n="pst_177.020"/>
das Beispiel Shakespeares, das alte Gesetz aufheben zu <lb n="pst_177.021"/>
dürfen. Allein, die historischen Befunde entsprechen <lb n="pst_177.022"/>
diesem Gedankengang nicht. Shakespeare kennt noch <lb n="pst_177.023"/>
keine Kulissen. Dennoch verändert er nach Belieben die <lb n="pst_177.024"/>
Szene und zieht eine Handlung über Wochen oder gar <lb n="pst_177.025"/>
Monate hin. Das Theater des Barock entfaltet den üppigsten <lb n="pst_177.026"/>
szenischen Prunk. Die Lust an Verwandlungen, <lb n="pst_177.027"/>
Maschinerien, an Bühneneffekten aller Art ist grenzenlos <lb n="pst_177.028"/>
und wird im Ballett, in der Oper mit Leidenschaft <lb n="pst_177.029"/>
ausgekostet. Corneille und Racine aber halten fest an <lb n="pst_177.030"/>
der Einheit des Orts und der Zeit; und niemand wird <lb n="pst_177.031"/>
glauben, einzig das Vorbild der Griechen habe sie dazu
</p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[177/0181] pst_177.001 Publikum sich keinen Augenblick gehen lassen. Wer pst_177.002 etwas vergißt, der läuft Gefahr, daß ihm das Ganze pst_177.003 dunkel bleibt. pst_177.004   Damit sind jedoch abermals Forderungen ausgesprochen, pst_177.005 die man von jeher an den dramatischen Dichter pst_177.006 gestellt hat. Wieder wird die Bühne bedeutsam, aber pst_177.007 nun nicht als Podium, als Erhöhung dessen, der voraus pst_177.008 ist, sondern als szenischer Rahmen, in dem sich ein weitverzweigtes pst_177.009 Geschehen abspielt. Das Publikum versammelt pst_177.010 sich, sei es nun um die antike Orchestra, sei es vor pst_177.011 den Brettern, die in neuerer Zeit die Welt bedeuten pst_177.012 müssen. Einige Stunden hält es aus und richtet die Augen pst_177.013 auf den einen Raum, in dem sich die Handlung bewegt. pst_177.014 Damit hat man den Satz von der Einheit des Orts, der pst_177.015 Zeit und der Handlung begründet. Im neueren Drama pst_177.016 fällt der Chor weg, der bei den Griechen vom Anfang pst_177.017 bis zum Schluß auf der Bühne verharrt. Außerdem pst_177.018 wird es möglich, mit Kulissen die Szene beliebig zu pst_177.019 ändern. Infolgedessen glaubte man, gestützt zumal auf pst_177.020 das Beispiel Shakespeares, das alte Gesetz aufheben zu pst_177.021 dürfen. Allein, die historischen Befunde entsprechen pst_177.022 diesem Gedankengang nicht. Shakespeare kennt noch pst_177.023 keine Kulissen. Dennoch verändert er nach Belieben die pst_177.024 Szene und zieht eine Handlung über Wochen oder gar pst_177.025 Monate hin. Das Theater des Barock entfaltet den üppigsten pst_177.026 szenischen Prunk. Die Lust an Verwandlungen, pst_177.027 Maschinerien, an Bühneneffekten aller Art ist grenzenlos pst_177.028 und wird im Ballett, in der Oper mit Leidenschaft pst_177.029 ausgekostet. Corneille und Racine aber halten fest an pst_177.030 der Einheit des Orts und der Zeit; und niemand wird pst_177.031 glauben, einzig das Vorbild der Griechen habe sie dazu

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Technische Universität Darmstadt, Universität Stuttgart: Bereitstellung der Scan-Digitalisate und der Texttranskription. (2015-09-30T09:54:39Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
TextGrid/DARIAH-DE: Langfristige Bereitstellung der TextGrid/DARIAH-DE-Repository-Ausgabe
Stefan Alscher: Bearbeitung der digitalen Edition - Annotation des Metaphernbegriffs
Hans-Werner Bartz: Bearbeitung der digitalen Edition - Tustep-Unterstützung
Michael Bender: Bearbeitung der digitalen Edition - Koordination, Konzeption (Korpusaufbau, Annotationsschema, Workflow, Publikationsformen), Annotation des Metaphernbegriffs, XML-Auszeichnung)
Leonie Blumenschein: Bearbeitung der digitalen Edition - XML-Auszeichnung
David Glück: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung, Annotation des Metaphernbegriffs, XSL+JavaScript
Constanze Hahn: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung
Philipp Hegel: Bearbeitung der digitalen Edition - XML/XSL/CSS-Unterstützung
Andrea Rapp: ePoetics-Projekt-Koordination

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: keine Angabe; Druckfehler: keine Angabe; fremdsprachliches Material: gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage; i/j in Fraktur: wie Vorlage; I/J in Fraktur: wie Vorlage; Kolumnentitel: nicht übernommen; Kustoden: nicht übernommen; langes s (ſ): wie Vorlage; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): wie Vorlage; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: nicht übernommen; u/v bzw. U/V: wie Vorlage; Vokale mit übergest. e: wie Vorlage; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: ja;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/staiger_poetik_1946
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/staiger_poetik_1946/181
Zitationshilfe: Staiger, Emil: Grundbegriffe der Poetik. Zürich, 1946, S. 177. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/staiger_poetik_1946/181>, abgerufen am 30.04.2024.