Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Staiger, Emil: Grundbegriffe der Poetik. Zürich, 1946.

Bild:
<< vorherige Seite

pst_176.001
nicht Einzelnes aufgereiht, sondern ein Ganzes in Teile pst_176.002
zerlegt und die Ordnung der Teile genau bedacht wird.

pst_176.003

In epischer Dichtung nämlich häuft sich ein Werk pst_176.004
aus Einzelheiten zusammen. Im problematischen Stil pst_176.005
muß das Ganze klar sein, bevor der Dichter Art und pst_176.006
Umfang der Teile bestimmen kann. Er stellt den Punkt pst_176.007
fest, auf den es hinaus will, und überlegt sodann, wie pst_176.008
alles auf diesen Punkt hin zu ordnen sei. Nur so wird pst_176.009
es möglich, eine Beziehung aller Teile sicherzustellen, pst_176.010
zustandezubringen, daß in der ganzen Dichtung kein pst_176.011
stumpfes Geleise, oder, mit Schiller zu reden, "nichts pst_176.012
Blindes"1 ist. In Fabeln, kurzen Verserzählungen, Epigrammen, pst_176.013
mit denen wir bisher aus praktischen Gründen pst_176.014
das Wesen der problematischen Dichtung erläutert pst_176.015
haben, bereitet dies wenig Schwierigkeiten. Hier läßt pst_176.016
sich das Ganze noch leicht übersehen. Wenn dagegen in pst_176.017
längeren Novellen oder gar in Romanen, wie denen Dostojewskis, pst_176.018
nicht bloß geschildert, sondern ein intrikates pst_176.019
Problem durch alle Verästelungen verfolgt wird, so findet pst_176.020
der Dichter sich zur höchsten Umsicht und Konzentration pst_176.021
gezwungen. Er wird bestrebt sein, das Äußerliche pst_176.022
nur mit wenigen Strichen anzudeuten, das Wesentliche pst_176.023
dagegen in bedeutenden Ereignissen, in "prägnanten pst_176.024
Momenten"2 hervorzuheben. Er wird von Zeit pst_176.025
zu Zeit Betrachtungen einschalten, die das Geschehene pst_176.026
zusammenfassen und das Gedächtnis entlasten. Er wird pst_176.027
mit allen Mitteln bemüht sein, sich selbst und damit pst_176.028
auch dem Leser die Überlegung zu erleichtern. Das pst_176.029
"Schläfchen Homers" ist ihm versagt. Ebenso darf das

1 pst_176.030
An Goethe, 2. Oktober 1797.
2 pst_176.031
Schiller an Goethe, 2. Oktober 1797.

pst_176.001
nicht Einzelnes aufgereiht, sondern ein Ganzes in Teile pst_176.002
zerlegt und die Ordnung der Teile genau bedacht wird.

pst_176.003

  In epischer Dichtung nämlich häuft sich ein Werk pst_176.004
aus Einzelheiten zusammen. Im problematischen Stil pst_176.005
muß das Ganze klar sein, bevor der Dichter Art und pst_176.006
Umfang der Teile bestimmen kann. Er stellt den Punkt pst_176.007
fest, auf den es hinaus will, und überlegt sodann, wie pst_176.008
alles auf diesen Punkt hin zu ordnen sei. Nur so wird pst_176.009
es möglich, eine Beziehung aller Teile sicherzustellen, pst_176.010
zustandezubringen, daß in der ganzen Dichtung kein pst_176.011
stumpfes Geleise, oder, mit Schiller zu reden, «nichts pst_176.012
Blindes»1 ist. In Fabeln, kurzen Verserzählungen, Epigrammen, pst_176.013
mit denen wir bisher aus praktischen Gründen pst_176.014
das Wesen der problematischen Dichtung erläutert pst_176.015
haben, bereitet dies wenig Schwierigkeiten. Hier läßt pst_176.016
sich das Ganze noch leicht übersehen. Wenn dagegen in pst_176.017
längeren Novellen oder gar in Romanen, wie denen Dostojewskis, pst_176.018
nicht bloß geschildert, sondern ein intrikates pst_176.019
Problem durch alle Verästelungen verfolgt wird, so findet pst_176.020
der Dichter sich zur höchsten Umsicht und Konzentration pst_176.021
gezwungen. Er wird bestrebt sein, das Äußerliche pst_176.022
nur mit wenigen Strichen anzudeuten, das Wesentliche pst_176.023
dagegen in bedeutenden Ereignissen, in «prägnanten pst_176.024
Momenten»2 hervorzuheben. Er wird von Zeit pst_176.025
zu Zeit Betrachtungen einschalten, die das Geschehene pst_176.026
zusammenfassen und das Gedächtnis entlasten. Er wird pst_176.027
mit allen Mitteln bemüht sein, sich selbst und damit pst_176.028
auch dem Leser die Überlegung zu erleichtern. Das pst_176.029
«Schläfchen Homers» ist ihm versagt. Ebenso darf das

1 pst_176.030
An Goethe, 2. Oktober 1797.
2 pst_176.031
Schiller an Goethe, 2. Oktober 1797.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0180" n="176"/><lb n="pst_176.001"/>
nicht Einzelnes aufgereiht, sondern ein Ganzes in Teile <lb n="pst_176.002"/>
zerlegt und die Ordnung der Teile genau bedacht wird.</p>
          <lb n="pst_176.003"/>
          <p>  In epischer Dichtung nämlich häuft sich ein Werk <lb n="pst_176.004"/>
aus Einzelheiten zusammen. Im problematischen Stil <lb n="pst_176.005"/>
muß das Ganze klar sein, bevor der Dichter Art und <lb n="pst_176.006"/>
Umfang der Teile bestimmen kann. Er stellt den Punkt <lb n="pst_176.007"/>
fest, auf den es hinaus will, und überlegt sodann, wie <lb n="pst_176.008"/>
alles auf diesen Punkt hin zu ordnen sei. Nur so wird <lb n="pst_176.009"/>
es möglich, eine Beziehung aller Teile sicherzustellen, <lb n="pst_176.010"/>
zustandezubringen, daß in der ganzen Dichtung kein <lb n="pst_176.011"/>
stumpfes Geleise, oder, mit Schiller zu reden, «nichts <lb n="pst_176.012"/>
Blindes»<note xml:id="PST_176_1" place="foot" n="1"><lb n="pst_176.030"/>
An Goethe, 2. Oktober 1797.</note> ist. In Fabeln, kurzen Verserzählungen, Epigrammen, <lb n="pst_176.013"/>
mit denen wir bisher aus praktischen Gründen <lb n="pst_176.014"/>
das Wesen der problematischen Dichtung erläutert <lb n="pst_176.015"/>
haben, bereitet dies wenig Schwierigkeiten. Hier läßt <lb n="pst_176.016"/>
sich das Ganze noch leicht übersehen. Wenn dagegen in <lb n="pst_176.017"/>
längeren Novellen oder gar in Romanen, wie denen Dostojewskis, <lb n="pst_176.018"/>
nicht bloß geschildert, sondern ein intrikates <lb n="pst_176.019"/>
Problem durch alle Verästelungen verfolgt wird, so findet <lb n="pst_176.020"/>
der Dichter sich zur höchsten Umsicht und Konzentration <lb n="pst_176.021"/>
gezwungen. Er wird bestrebt sein, das Äußerliche <lb n="pst_176.022"/>
nur mit wenigen Strichen anzudeuten, das Wesentliche <lb n="pst_176.023"/>
dagegen in bedeutenden Ereignissen, in «prägnanten <lb n="pst_176.024"/>
Momenten»<note xml:id="PST_176_2" place="foot" n="2"><lb n="pst_176.031"/>
Schiller an Goethe, 2. Oktober 1797.</note> hervorzuheben. Er wird von Zeit <lb n="pst_176.025"/>
zu Zeit Betrachtungen einschalten, die das Geschehene <lb n="pst_176.026"/>
zusammenfassen und das Gedächtnis entlasten. Er wird <lb n="pst_176.027"/>
mit allen Mitteln bemüht sein, sich selbst und damit <lb n="pst_176.028"/>
auch dem Leser die Überlegung zu erleichtern. Das <lb n="pst_176.029"/>
«Schläfchen Homers» ist ihm versagt. Ebenso darf das
</p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[176/0180] pst_176.001 nicht Einzelnes aufgereiht, sondern ein Ganzes in Teile pst_176.002 zerlegt und die Ordnung der Teile genau bedacht wird. pst_176.003   In epischer Dichtung nämlich häuft sich ein Werk pst_176.004 aus Einzelheiten zusammen. Im problematischen Stil pst_176.005 muß das Ganze klar sein, bevor der Dichter Art und pst_176.006 Umfang der Teile bestimmen kann. Er stellt den Punkt pst_176.007 fest, auf den es hinaus will, und überlegt sodann, wie pst_176.008 alles auf diesen Punkt hin zu ordnen sei. Nur so wird pst_176.009 es möglich, eine Beziehung aller Teile sicherzustellen, pst_176.010 zustandezubringen, daß in der ganzen Dichtung kein pst_176.011 stumpfes Geleise, oder, mit Schiller zu reden, «nichts pst_176.012 Blindes» 1 ist. In Fabeln, kurzen Verserzählungen, Epigrammen, pst_176.013 mit denen wir bisher aus praktischen Gründen pst_176.014 das Wesen der problematischen Dichtung erläutert pst_176.015 haben, bereitet dies wenig Schwierigkeiten. Hier läßt pst_176.016 sich das Ganze noch leicht übersehen. Wenn dagegen in pst_176.017 längeren Novellen oder gar in Romanen, wie denen Dostojewskis, pst_176.018 nicht bloß geschildert, sondern ein intrikates pst_176.019 Problem durch alle Verästelungen verfolgt wird, so findet pst_176.020 der Dichter sich zur höchsten Umsicht und Konzentration pst_176.021 gezwungen. Er wird bestrebt sein, das Äußerliche pst_176.022 nur mit wenigen Strichen anzudeuten, das Wesentliche pst_176.023 dagegen in bedeutenden Ereignissen, in «prägnanten pst_176.024 Momenten» 2 hervorzuheben. Er wird von Zeit pst_176.025 zu Zeit Betrachtungen einschalten, die das Geschehene pst_176.026 zusammenfassen und das Gedächtnis entlasten. Er wird pst_176.027 mit allen Mitteln bemüht sein, sich selbst und damit pst_176.028 auch dem Leser die Überlegung zu erleichtern. Das pst_176.029 «Schläfchen Homers» ist ihm versagt. Ebenso darf das 1 pst_176.030 An Goethe, 2. Oktober 1797. 2 pst_176.031 Schiller an Goethe, 2. Oktober 1797.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Technische Universität Darmstadt, Universität Stuttgart: Bereitstellung der Scan-Digitalisate und der Texttranskription. (2015-09-30T09:54:39Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
TextGrid/DARIAH-DE: Langfristige Bereitstellung der TextGrid/DARIAH-DE-Repository-Ausgabe
Stefan Alscher: Bearbeitung der digitalen Edition - Annotation des Metaphernbegriffs
Hans-Werner Bartz: Bearbeitung der digitalen Edition - Tustep-Unterstützung
Michael Bender: Bearbeitung der digitalen Edition - Koordination, Konzeption (Korpusaufbau, Annotationsschema, Workflow, Publikationsformen), Annotation des Metaphernbegriffs, XML-Auszeichnung)
Leonie Blumenschein: Bearbeitung der digitalen Edition - XML-Auszeichnung
David Glück: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung, Annotation des Metaphernbegriffs, XSL+JavaScript
Constanze Hahn: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung
Philipp Hegel: Bearbeitung der digitalen Edition - XML/XSL/CSS-Unterstützung
Andrea Rapp: ePoetics-Projekt-Koordination

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: keine Angabe; Druckfehler: keine Angabe; fremdsprachliches Material: gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage; i/j in Fraktur: wie Vorlage; I/J in Fraktur: wie Vorlage; Kolumnentitel: nicht übernommen; Kustoden: nicht übernommen; langes s (ſ): wie Vorlage; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): wie Vorlage; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: nicht übernommen; u/v bzw. U/V: wie Vorlage; Vokale mit übergest. e: wie Vorlage; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: ja;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/staiger_poetik_1946
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/staiger_poetik_1946/180
Zitationshilfe: Staiger, Emil: Grundbegriffe der Poetik. Zürich, 1946, S. 176. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/staiger_poetik_1946/180>, abgerufen am 30.04.2024.