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Staiger, Emil: Grundbegriffe der Poetik. Zürich, 1946.

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vermocht. Sogar im deutschen Sturm und Drang, dessen pst_178.002
Bühnenwerke doch ganz den Manen Shakespeares pst_178.003
verpflichtet sind, fällt Schiller auf, der die Zersplitterung pst_178.004
in kurze Szenen vermeidet und schon in "Kabale pst_178.005
und Liebe" ein räumlich und zeitlich sehr geschlossenes pst_178.006
Stück vorlegt. Der reife Ibsen vollends wählt ein Haus pst_178.007
oder einen Raum als Schauplatz, drängt die Handlung pst_178.008
in einen Tag oder gar in wenige Stunden zusammen pst_178.009
und steht in dieser Hinsicht den griechischen Tragikern pst_178.010
ohne äußere Notwendigkeit wieder so nahe wie Corneille pst_178.011
und Racine.

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Das bedeutet: den Zwang zur Sammlung, den das pst_178.013
antike Theater ausübt, heißt auch eine große Gruppe pst_178.014
von neueren Bühnendichtern willkommen, offenbar pst_178.015
eben jene, welche die problematischen Dichter umfaßt. pst_178.016
Sie machen wohl mehr oder weniger von der Möglichkeit pst_178.017
des Szenenwechsels Gebrauch und erlauben sich pst_178.018
öfter auch, die Handlung über die klassischen vierundzwanzig pst_178.019
Stunden auszudehnen. So peinlich wie Corneille pst_178.020
setzt sich niemand mehr mit dem alten Gesetz pst_178.021
auseinander. Den tieferen Sinn und Wert jedoch, der pst_178.022
ihm eigen ist, verkennen sie nicht. Was Goethe im pst_178.023
"Götz" aussprechen will, was Shakespeare im "König pst_178.024
Lear" verkündet, das läßt sich allerdings besser ohne pst_178.025
antikisierende Rücksichten sagen. Doch Corneille, Racine, pst_178.026
Gryphius, Lessing, Schiller, Kleist, Hebbel, Ibsen: pst_178.027
diesen Dichtern ist es gemäß, die Zeit zu verkürzen, pst_178.028
den Raum zu verengen, aus einem ausgedehnten pst_178.029
Geschehen den prägnanten Moment zu wählen - einen pst_178.030
Moment kurz vor dem Abschluß - und nun von da aus pst_178.031
das Viele zur sinnlich faßbaren Einheit zusammenzuziehen,

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  Das bedeutet: den Zwang zur Sammlung, den das pst_178.013
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Zitationshilfe: Staiger, Emil: Grundbegriffe der Poetik. Zürich, 1946, S. 178. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/staiger_poetik_1946/182>, abgerufen am 30.04.2024.