Staiger, Emil: Grundbegriffe der Poetik. Zürich, 1946.pst_173.001 Nach diesem Grundsatz erzählt er zum Beispiel die pst_173.002 "Eine alte Kirche, welche den Sperlingen unzählige pst_173.004 Lafontaine hätte dieselbe Fabel zweifellos zierlich pst_173.011 Wir werden uns hier so wenig wie sonst dem Werturteil pst_173.019 pst_173.001 Nach diesem Grundsatz erzählt er zum Beispiel die pst_173.002 «Eine alte Kirche, welche den Sperlingen unzählige pst_173.004 Lafontaine hätte dieselbe Fabel zweifellos zierlich pst_173.011 Wir werden uns hier so wenig wie sonst dem Werturteil pst_173.019 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <pb facs="#f0177" n="173"/> <lb n="pst_173.001"/> <p> Nach diesem Grundsatz erzählt er zum Beispiel die <lb n="pst_173.002"/> Fabel von den Sperlingen so:</p> <lb n="pst_173.003"/> <p> «Eine alte Kirche, welche den Sperlingen unzählige <lb n="pst_173.004"/> Nester gab, ward ausgebessert. Als sie nun in ihrem <lb n="pst_173.005"/> neuen Glanze da stand, kamen die Sperlinge wieder, <lb n="pst_173.006"/> ihre alten Wohnungen zu suchen. Allein, sie fanden sie <lb n="pst_173.007"/> alle vermauert. Zu was, schrien sie, taugt denn nun das <lb n="pst_173.008"/> große Gebäude? Kommt, verlaßt den unbrauchbaren <lb n="pst_173.009"/> Steinhaufen.»</p> <lb n="pst_173.010"/> <p> Lafontaine hätte dieselbe Fabel zweifellos zierlich <lb n="pst_173.011"/> ausgestattet und uns mit einer Schilderung des Gebäudes <lb n="pst_173.012"/> sowohl wie der Vögel entzückt. Lessing legt nur <lb n="pst_173.013"/> Wert darauf, die Relativität des Zwecks oder vielleicht <lb n="pst_173.014"/> den Unterschied von Nutzen und Schönheit einzuprägen. <lb n="pst_173.015"/> Asketisch läßt er alles weg, was nicht unmittelbar <lb n="pst_173.016"/> dieser Absicht dient. Lafontaines Fabeln scheinen ihm – <lb n="pst_173.017"/> bei aller Pracht – ins Epische entartet zu sein.</p> <lb n="pst_173.018"/> <p> Wir werden uns hier so wenig wie sonst dem Werturteil <lb n="pst_173.019"/> anschließen wollen und nennen das Beispiel nur, <lb n="pst_173.020"/> weil es unübertrefflich den Stilunterschied erklärt. <lb n="pst_173.021"/> Dichtungen, wie sie uns hier begegnen, dürfen wir weder <lb n="pst_173.022"/> episch noch pathetisch oder lyrisch nennen. Sie lassen <lb n="pst_173.023"/> sich auch nicht, wie die Ballade oder die Ode, als <lb n="pst_173.024"/> «gemischte» Arten interpretieren. Sie sollen «problematisch» <lb n="pst_173.025"/> heißen, indem wir den Ausdruck «Problem» <lb n="pst_173.026"/> in seiner eigentlichen Bedeutung verstehen, wonach er <lb n="pst_173.027"/> das «Vorgeworfene» meint, das Vorgeworfene, das der <lb n="pst_173.028"/> Werfende in der Bewegung einholen muß. Der Vorwurf <lb n="pst_173.029"/> in der Fabel Lessings ist der Gedanke der Zweckmäßigkeit, <lb n="pst_173.030"/> der Vorwurf in Martials Epigramm die Sentenz <lb n="pst_173.031"/> von der Tugend in Leben und Tod, und im «Faustin» </p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [173/0177]
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Nach diesem Grundsatz erzählt er zum Beispiel die pst_173.002
Fabel von den Sperlingen so:
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«Eine alte Kirche, welche den Sperlingen unzählige pst_173.004
Nester gab, ward ausgebessert. Als sie nun in ihrem pst_173.005
neuen Glanze da stand, kamen die Sperlinge wieder, pst_173.006
ihre alten Wohnungen zu suchen. Allein, sie fanden sie pst_173.007
alle vermauert. Zu was, schrien sie, taugt denn nun das pst_173.008
große Gebäude? Kommt, verlaßt den unbrauchbaren pst_173.009
Steinhaufen.»
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Lafontaine hätte dieselbe Fabel zweifellos zierlich pst_173.011
ausgestattet und uns mit einer Schilderung des Gebäudes pst_173.012
sowohl wie der Vögel entzückt. Lessing legt nur pst_173.013
Wert darauf, die Relativität des Zwecks oder vielleicht pst_173.014
den Unterschied von Nutzen und Schönheit einzuprägen. pst_173.015
Asketisch läßt er alles weg, was nicht unmittelbar pst_173.016
dieser Absicht dient. Lafontaines Fabeln scheinen ihm – pst_173.017
bei aller Pracht – ins Epische entartet zu sein.
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Wir werden uns hier so wenig wie sonst dem Werturteil pst_173.019
anschließen wollen und nennen das Beispiel nur, pst_173.020
weil es unübertrefflich den Stilunterschied erklärt. pst_173.021
Dichtungen, wie sie uns hier begegnen, dürfen wir weder pst_173.022
episch noch pathetisch oder lyrisch nennen. Sie lassen pst_173.023
sich auch nicht, wie die Ballade oder die Ode, als pst_173.024
«gemischte» Arten interpretieren. Sie sollen «problematisch» pst_173.025
heißen, indem wir den Ausdruck «Problem» pst_173.026
in seiner eigentlichen Bedeutung verstehen, wonach er pst_173.027
das «Vorgeworfene» meint, das Vorgeworfene, das der pst_173.028
Werfende in der Bewegung einholen muß. Der Vorwurf pst_173.029
in der Fabel Lessings ist der Gedanke der Zweckmäßigkeit, pst_173.030
der Vorwurf in Martials Epigramm die Sentenz pst_173.031
von der Tugend in Leben und Tod, und im «Faustin»
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(2015-09-30T09:54:39Z)
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