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Staiger, Emil: Grundbegriffe der Poetik. Zürich, 1946.

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"Aufschluß" gliedern müsse und daß der erste Teil, die pst_172.002
Erwartung, genau so auszuführen sei, daß der zweite, pst_172.003
der Aufschluß, ein Höchstes an Deutlichkeit und Nachdruck pst_172.004
gewinne. Als Muster nennt er Martial:

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"Quod magni Thraseae consummatique Catonis pst_172.006
Dogmata sic sequeris, salvus ut esse velis; pst_172.007
Pectore nec nudo strictos incurris in enses, pst_172.008
Quod fecisse velim te, Deciane, facis. pst_172.009
Nolo virum, facili redimit qui sanguine famam: pst_172.010
Hunc volo, laudari qui sine morte potest."

(I, 9)

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Martial hat nicht die Absicht, von Thrasea oder Cato zu pst_172.012
erzählen. Er benutzt die Namen nur, um zu sagen, daß pst_172.013
ihm ein langes tüchtiges Leben verdienstvoller scheine pst_172.014
als ein rascher heroischer Tod. Auf diesen Gedanken pst_172.015
"kommt" alles "an".

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Die alte Poetik ordnet das Epigramm der lyrischen pst_172.017
Gattung zu. Nun gibt es zwar lyrische Epigramme, zum pst_172.018
Beispiel die zarten Landschaftsgemälde der Anyte von pst_172.019
Tegea. Die meisten Epigramme jedoch verbreiten keine pst_172.020
Stimmung. Sie zeichnen sich eher durch eine eigentümliche pst_172.021
kalte Helle aus und sprechen nicht die Seele, sondern pst_172.022
den Geist an.

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Ebenso die Fabel, wie sie Lessing bestimmen zu dürfen pst_172.024
glaubt.

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"Wenn ich mir einer moralischen Wahrheit durch pst_172.026
die Fabel bewußt werden soll, so muß ich die Fabel auf pst_172.027
einmal übersehen können; und um sie auf einmal übersehen pst_172.028
zu können, muß sie so kurz sein als möglich1."

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Sämtliche Schriften, hrsg. von K. Lachmann und Fr. Muncker, pst_172.030
7. Bd., Stuttgart 1891, S. 470.

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«Aufschluß» gliedern müsse und daß der erste Teil, die pst_172.002
Erwartung, genau so auszuführen sei, daß der zweite, pst_172.003
der Aufschluß, ein Höchstes an Deutlichkeit und Nachdruck pst_172.004
gewinne. Als Muster nennt er Martial:

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«Quod magni Thraseae consummatique Catonis pst_172.006
  Dogmata sic sequeris, salvus ut esse velis; pst_172.007
Pectore nec nudo strictos incurris in enses, pst_172.008
  Quod fecisse velim te, Deciane, facis. pst_172.009
Nolo virum, facili redimit qui sanguine famam: pst_172.010
  Hunc volo, laudari qui sine morte potest.»

(I, 9)

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Martial hat nicht die Absicht, von Thrasea oder Cato zu pst_172.012
erzählen. Er benutzt die Namen nur, um zu sagen, daß pst_172.013
ihm ein langes tüchtiges Leben verdienstvoller scheine pst_172.014
als ein rascher heroischer Tod. Auf diesen Gedanken pst_172.015
«kommt» alles «an».

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  Die alte Poetik ordnet das Epigramm der lyrischen pst_172.017
Gattung zu. Nun gibt es zwar lyrische Epigramme, zum pst_172.018
Beispiel die zarten Landschaftsgemälde der Anyte von pst_172.019
Tegea. Die meisten Epigramme jedoch verbreiten keine pst_172.020
Stimmung. Sie zeichnen sich eher durch eine eigentümliche pst_172.021
kalte Helle aus und sprechen nicht die Seele, sondern pst_172.022
den Geist an.

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  Ebenso die Fabel, wie sie Lessing bestimmen zu dürfen pst_172.024
glaubt.

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  «Wenn ich mir einer moralischen Wahrheit durch pst_172.026
die Fabel bewußt werden soll, so muß ich die Fabel auf pst_172.027
einmal übersehen können; und um sie auf einmal übersehen pst_172.028
zu können, muß sie so kurz sein als möglich1

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Sämtliche Schriften, hrsg. von K. Lachmann und Fr. Muncker, pst_172.030
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[172/0176] pst_172.001 «Aufschluß» gliedern müsse und daß der erste Teil, die pst_172.002 Erwartung, genau so auszuführen sei, daß der zweite, pst_172.003 der Aufschluß, ein Höchstes an Deutlichkeit und Nachdruck pst_172.004 gewinne. Als Muster nennt er Martial: pst_172.005 «Quod magni Thraseae consummatique Catonis pst_172.006   Dogmata sic sequeris, salvus ut esse velis; pst_172.007 Pectore nec nudo strictos incurris in enses, pst_172.008   Quod fecisse velim te, Deciane, facis. pst_172.009 Nolo virum, facili redimit qui sanguine famam: pst_172.010   Hunc volo, laudari qui sine morte potest.» (I, 9) pst_172.011 Martial hat nicht die Absicht, von Thrasea oder Cato zu pst_172.012 erzählen. Er benutzt die Namen nur, um zu sagen, daß pst_172.013 ihm ein langes tüchtiges Leben verdienstvoller scheine pst_172.014 als ein rascher heroischer Tod. Auf diesen Gedanken pst_172.015 «kommt» alles «an». pst_172.016   Die alte Poetik ordnet das Epigramm der lyrischen pst_172.017 Gattung zu. Nun gibt es zwar lyrische Epigramme, zum pst_172.018 Beispiel die zarten Landschaftsgemälde der Anyte von pst_172.019 Tegea. Die meisten Epigramme jedoch verbreiten keine pst_172.020 Stimmung. Sie zeichnen sich eher durch eine eigentümliche pst_172.021 kalte Helle aus und sprechen nicht die Seele, sondern pst_172.022 den Geist an. pst_172.023   Ebenso die Fabel, wie sie Lessing bestimmen zu dürfen pst_172.024 glaubt. pst_172.025   «Wenn ich mir einer moralischen Wahrheit durch pst_172.026 die Fabel bewußt werden soll, so muß ich die Fabel auf pst_172.027 einmal übersehen können; und um sie auf einmal übersehen pst_172.028 zu können, muß sie so kurz sein als möglich 1.» 1 pst_172.029 Sämtliche Schriften, hrsg. von K. Lachmann und Fr. Muncker, pst_172.030 7. Bd., Stuttgart 1891, S. 470.

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Zitationshilfe: Staiger, Emil: Grundbegriffe der Poetik. Zürich, 1946, S. 172. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/staiger_poetik_1946/176>, abgerufen am 30.04.2024.