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Staiger, Emil: Grundbegriffe der Poetik. Zürich, 1946.

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Die unwillkürliche, oder gar ungewollte Verwandtschaft pst_152.002
mit Homer - die, wie alles Gattungsmäßige, kein pst_152.003
Werturteil begründen kann - fällt hier besonders ins pst_152.004
Gewicht. So darf auch noch von manchen Unvereinbarkeiten pst_152.005
die Rede sein, von topographischen Widersprüchen pst_152.006
zum Beispiel, die es verbieten, alle Aussagen über pst_152.007
den Olymp und das Menschenland in ein Ganzes zusammenzudenken. pst_152.008
Man sieht sich gezwungen, mit einer pst_152.009
Art naiver Sorglosigkeit zu lesen, obwohl dann Spitteler pst_152.010
andrerseits wieder durch allegorische Anspielungen pst_152.011
Tiefsinn vortäuscht und den Blick auf die epische Fülle pst_152.012
der Dichtung stört.

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Ein seltsames dichterisches Phänomen! Es wird vielleicht pst_152.014
verständlicher, wenn wir bedenken, daß es bereits pst_152.015
in eine Epoche gehört, die aus der christlichen Zeit pst_152.016
herauszutreten beginnt, die nicht nur den christlichen pst_152.017
Heilsplan preisgibt, sondern auch alle säkularisierte pst_152.018
Spannung in die Zukunft verliert, die Idee des Fortschritts, pst_152.019
die Eschatologie im Sinne Kants und Hegels pst_152.020
dialektische Spirale. Die Antwort auf ein "Wozu?" pst_152.021
bleibt aus, gerade bei Spitteler, der, wie Nietzsche, die pst_152.022
völlige Zwecklosigkeit des Daseins bei jeder Gelegenheit pst_152.023
betont. Hängt nicht damit die Wiederkehr eines echten pst_152.024
epischen Stils zusammen? Die Umwelt des Dichters pst_152.025
freilich gibt ihre neuzeitliche Beschaffenheit nicht preis. pst_152.026
So kann denn das neue Epos auch nichts mit ihr zu schaffen pst_152.027
haben. In schroffstem Gegensatz zu Homer baut pst_152.028
Spitteler eine ersonnene, erträumte Welt der Schönheit pst_152.029
auf und erfindet Mythen, die keinen Kreis, geschweige pst_152.030
denn ein Volk angehen. Ja, bei diesen Mythen bleibt pst_152.031
er sogar auf die Namen und Charaktere der griechischen

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  Die unwillkürliche, oder gar ungewollte Verwandtschaft pst_152.002
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Werturteil begründen kann – fällt hier besonders ins pst_152.004
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Man sieht sich gezwungen, mit einer pst_152.009
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Tiefsinn vortäuscht und den Blick auf die epische Fülle pst_152.012
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  Ein seltsames dichterisches Phänomen! Es wird vielleicht pst_152.014
verständlicher, wenn wir bedenken, daß es bereits pst_152.015
in eine Epoche gehört, die aus der christlichen Zeit pst_152.016
herauszutreten beginnt, die nicht nur den christlichen pst_152.017
Heilsplan preisgibt, sondern auch alle säkularisierte pst_152.018
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die Eschatologie im Sinne Kants und Hegels pst_152.020
dialektische Spirale. Die Antwort auf ein «Wozu?» pst_152.021
bleibt aus, gerade bei Spitteler, der, wie Nietzsche, die pst_152.022
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[152/0156] pst_152.001   Die unwillkürliche, oder gar ungewollte Verwandtschaft pst_152.002 mit Homer – die, wie alles Gattungsmäßige, kein pst_152.003 Werturteil begründen kann – fällt hier besonders ins pst_152.004 Gewicht. So darf auch noch von manchen Unvereinbarkeiten pst_152.005 die Rede sein, von topographischen Widersprüchen pst_152.006 zum Beispiel, die es verbieten, alle Aussagen über pst_152.007 den Olymp und das Menschenland in ein Ganzes zusammenzudenken. pst_152.008 Man sieht sich gezwungen, mit einer pst_152.009 Art naiver Sorglosigkeit zu lesen, obwohl dann Spitteler pst_152.010 andrerseits wieder durch allegorische Anspielungen pst_152.011 Tiefsinn vortäuscht und den Blick auf die epische Fülle pst_152.012 der Dichtung stört. pst_152.013   Ein seltsames dichterisches Phänomen! Es wird vielleicht pst_152.014 verständlicher, wenn wir bedenken, daß es bereits pst_152.015 in eine Epoche gehört, die aus der christlichen Zeit pst_152.016 herauszutreten beginnt, die nicht nur den christlichen pst_152.017 Heilsplan preisgibt, sondern auch alle säkularisierte pst_152.018 Spannung in die Zukunft verliert, die Idee des Fortschritts, pst_152.019 die Eschatologie im Sinne Kants und Hegels pst_152.020 dialektische Spirale. Die Antwort auf ein «Wozu?» pst_152.021 bleibt aus, gerade bei Spitteler, der, wie Nietzsche, die pst_152.022 völlige Zwecklosigkeit des Daseins bei jeder Gelegenheit pst_152.023 betont. Hängt nicht damit die Wiederkehr eines echten pst_152.024 epischen Stils zusammen? Die Umwelt des Dichters pst_152.025 freilich gibt ihre neuzeitliche Beschaffenheit nicht preis. pst_152.026 So kann denn das neue Epos auch nichts mit ihr zu schaffen pst_152.027 haben. In schroffstem Gegensatz zu Homer baut pst_152.028 Spitteler eine ersonnene, erträumte Welt der Schönheit pst_152.029 auf und erfindet Mythen, die keinen Kreis, geschweige pst_152.030 denn ein Volk angehen. Ja, bei diesen Mythen bleibt pst_152.031 er sogar auf die Namen und Charaktere der griechischen

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Zitationshilfe: Staiger, Emil: Grundbegriffe der Poetik. Zürich, 1946, S. 152. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/staiger_poetik_1946/156>, abgerufen am 30.04.2024.