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Staiger, Emil: Grundbegriffe der Poetik. Zürich, 1946.

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ist, zu entrinnen versucht. Sein Handeln bleibt an die pst_138.002
Zukunft gebunden, deren Antizipation im Orakel die pst_138.003
Spannung des Dramas erzeugt. Den Griechen in der pst_138.004
"Ilias" aber ist längst geweissagt, daß Troia nach zehn pst_138.005
Jahren fallen werde. Sie handeln, als wüßten sie eigentlich pst_138.006
nichts davon, unternehmen Mauerstürme, die vorläufig pst_138.007
nicht zum Ziel führen können; sind untröstlich pst_138.008
über einen Rückschlag, und selbst die bewunderte Haltung pst_138.009
Hektors, der ausspricht:

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"Einst wird kommen der Tag, da die heilige Ilios hinsinkt"
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und dennoch weiterkämpft auf verlorenem Posten, pst_138.013
dürfte wirklich nichts weiter als frische epische Gedankenlosigkeit pst_138.014
sein. Schon daß Menelaos (IV, 164) dieselben pst_138.015
Worte spricht und Hektor sie später nur wiederholt, pst_138.016
entwertet den Ausspruch in seinem Mund. Und pst_138.017
wie er dann gegen die Schiffe stürmt, ist sein Jubel über pst_138.018
den nahen Sieg von keinem noch so geheimen Wissen pst_138.019
um sicheren Untergang mehr beschattet. Wer das behauptet, pst_138.020
liest tragische Züge in den Helden Homers hinein pst_138.021
und sieht einen Hektor, wie ihn Shakespeare in pst_138.022
"Troilus und Cressida" dargestellt hat, nicht aber den pst_138.023
Kämpfer der "Ilias". Die Auslegung der Jahrtausende pst_138.024
lastet schwer auf den homerischen Epen. Niemand entrinnt pst_138.025
ihr heute mehr ganz, wie sehr auch unser historischer pst_138.026
Sinn seit den Tagen vor Herder geschärft sein pst_138.027
mag. Grundsätzlich wird man sagen dürfen, daß die einfachste, pst_138.028
"uninteressanteste" Auslegung die richtigste pst_138.029
sei und eine lichtvollere Schönheit erschließe, als jedes pst_138.030
interessante Gespinst.

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«Einst wird kommen der Tag, da die heilige Ilios hinsinkt»
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[138/0142] pst_138.001 ist, zu entrinnen versucht. Sein Handeln bleibt an die pst_138.002 Zukunft gebunden, deren Antizipation im Orakel die pst_138.003 Spannung des Dramas erzeugt. Den Griechen in der pst_138.004 «Ilias» aber ist längst geweissagt, daß Troia nach zehn pst_138.005 Jahren fallen werde. Sie handeln, als wüßten sie eigentlich pst_138.006 nichts davon, unternehmen Mauerstürme, die vorläufig pst_138.007 nicht zum Ziel führen können; sind untröstlich pst_138.008 über einen Rückschlag, und selbst die bewunderte Haltung pst_138.009 Hektors, der ausspricht: pst_138.010 «Einst wird kommen der Tag, da die heilige Ilios hinsinkt» pst_138.011 pst_138.012 und dennoch weiterkämpft auf verlorenem Posten, pst_138.013 dürfte wirklich nichts weiter als frische epische Gedankenlosigkeit pst_138.014 sein. Schon daß Menelaos (IV, 164) dieselben pst_138.015 Worte spricht und Hektor sie später nur wiederholt, pst_138.016 entwertet den Ausspruch in seinem Mund. Und pst_138.017 wie er dann gegen die Schiffe stürmt, ist sein Jubel über pst_138.018 den nahen Sieg von keinem noch so geheimen Wissen pst_138.019 um sicheren Untergang mehr beschattet. Wer das behauptet, pst_138.020 liest tragische Züge in den Helden Homers hinein pst_138.021 und sieht einen Hektor, wie ihn Shakespeare in pst_138.022 «Troilus und Cressida» dargestellt hat, nicht aber den pst_138.023 Kämpfer der «Ilias». Die Auslegung der Jahrtausende pst_138.024 lastet schwer auf den homerischen Epen. Niemand entrinnt pst_138.025 ihr heute mehr ganz, wie sehr auch unser historischer pst_138.026 Sinn seit den Tagen vor Herder geschärft sein pst_138.027 mag. Grundsätzlich wird man sagen dürfen, daß die einfachste, pst_138.028 «uninteressanteste» Auslegung die richtigste pst_138.029 sei und eine lichtvollere Schönheit erschließe, als jedes pst_138.030 interessante Gespinst.

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Zitationshilfe: Staiger, Emil: Grundbegriffe der Poetik. Zürich, 1946, S. 138. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/staiger_poetik_1946/142>, abgerufen am 04.05.2024.